Page - 135 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Erst jetzt fĂŒhrt Handke die Kritiker explizit als Adressaten seiner Auslassungen
an, wobei sich, wie ein spÀterer Hinweis nahelegt, hinter der namentlich nicht
genannten Zeitung die Frankfurter Allgemeine Zeitung verbirgt, deren Litera-
turressort in diesen Jahren von Marcel Reich-Ranicki geleitet wurde.296 Handke
greift, so hat es den Anschein, Bertolt Brechts vielzitierte Ăberlegungen zum
âZerpflĂŒcken von Gedichtenâ auf, die die analytische Sezierung literarischer Texte
offensiv legitimiertÂ
â âWer das Gedicht fĂŒr unnahbar hĂ€lt, kommt ihm wirklich
nicht nahe. In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses.
ZerpflĂŒcke eine Rose, und jedes Blatt ist schön.â 297 â, um sie im Bild vom zer-
krĂŒmelten Brot ins Gegenteil zu wenden:
Fast tagtÀglich nimmt es sich in der Zeitung, welche sich so viel darauf einbildet, der
Literatur einen besonderen Raum zu geben, ein junger oder alter Wicht, der weder
ein so schönes Wort wie âjungâ oder âaltâ je verdienen wird, heraus, mit ein paar
vollkommen vordergrĂŒndigen, Satz fĂŒr Satz durchschau- und vorhersehbaren Stan-
dardkniffen ein Buch, wie es auch sei, in ein Nicht-Buch zu zerkrĂŒmeln, vergleichbar
mit einem Kerl, der, ohne es zu wissen, was er tut, ein StĂŒck Brot zerkrĂŒmelt, bis es
nicht mehr Brot ist, und dafĂŒr auch noch bezahlt und dafĂŒr vielleicht auch noch in
seiner Abendkneipe belobigt wird: âDen hast du aber prachtvoll fertiggemacht!â 298
296 Vgl. ebd., S.Â
127, wo von âjene[r] Zeitung âfĂŒr Deutschlandââ die Rede istÂ
â der vollstĂ€ndige Titel
der FAZ lautet Frankfurter Allgemeine. Zeitung fĂŒr Deutschland. In seinen Jugoslawien-Texten
hat Handke erneut vehement gegen die FAZ Stellung bezogen; vgl. Peter Handke: Abschied des
TrÀumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerung an Slowenien.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 31 f.: âNoch im nachhinein bleibt es frecher Unsinn, wenn
der mit Informationen prunkende, dabei groĂmĂ€ulig-ahnungslose âSpiegelâ in seiner Titelstory
Jugoslawien ein âVölkergefĂ€ngnisâ! heiĂt, und wenn die FinstermĂ€nnerriege der deutschen
âFrankfurter Allgemeinenâ einen ihrer erfahrungslosen Maulhelden von der KĂ€rntner Grenze
reportieren lĂ€Ăt, die deutschen Ăsterreicher dort hĂ€tten mit ihrer slowenischen Minderheit
immer in gutem Einvernehmen gelebtâ. Vgl. auch die in der Winterlichen Reise formulierten
VorwĂŒrfe gegen die âTendenzkartĂ€tschenâ und âHaĂleitartikler[Â
] der FAZâ, der er attestiert, ein
âSerbenfreĂblattâ zu sein (Handke: Eine winterliche Reise zu den FlĂŒssen Donau, Save, Morawa
und Drina oder Gerechtigkeit fĂŒr Serbien [Anm.Â
26], S.Â
15, 33 u.Â
125). Dazu Handkes nachtrÀg-
licher Kommentar im GesprĂ€ch mit Willi Winkler: âĂber die Jahre habe ich mit zunehmender
Empörung verfolgt, wie die Frankfurter Allgemeine vorgegangen ist, auch der Spiegel und Le
Monde.Â
[âŠ] Was diese drei Organe gemacht haben, ist und bleibt kriminell. Das ist auf andere
Weise auch kriegsverbrecherisch.â (Willi Winkler: Ich bin nicht hingegangen, um mitzuhassen.
Peter Handke antwortet seinen Kritikern. In: DIE ZEIT, Nr. 6, 2. 2. 1996, S. 47 â 48, hier S. 47)
297 Vgl. Bertolt Brecht: Ăber das ZerpflĂŒcken von Gedichten. [1937/1939] In: B. B.: Werke. GroĂe
kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht u. a. Bd. 22: Schriften
2. Teil I. Berlin u. a.: Aufbau/Suhrkamp 1993, S. 453 â 454. Den Hinweis darauf verdanke ich
Werner Michler.
298 Handke: Einwenden und Hochhalten (Anm. 287), S. 126.
Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 135
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471