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wie die Diagnose einer AbnĂŒtzung literarischer Verfahren durch âWiederholung
und Verbrauchâ,35 die deutlich auf die theoretischen Konzepte des russischen
Formalismus (v. a. Boris Eichenbaum und Viktor Ć klovskij) rekurriert,36 und die
Problematisierung der Fallstricke ârealistischenâ Schreibens sind hier wie dort
von entscheidender Bedeutung. Hatte Handke zunÀchst vergleichsweise abstrakt
den Zusammenhang zwischen literarischer âManierâ und literaturkritischer
Unbedarftheit ins Visier genommen, um deren jeweilige Klischees aufzudecken,
steht im NatĂŒrlichkeits-Essay mit Marcel Reich-Ranicki ein prominenter Vertre-
ter jener ânormative[n] Literaturauffassungâ im Fokus, der der Autor schon in
Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967) vorgeworfen hatte, avancierten
literarischen Verfahren nicht gerecht werden zu können.37
Seiner einleitend formulierten Absicht, den Kritiker nicht âbeschimpfenâ,
sondern vielmehr auf dessen âkritische[ ] Modelle [âŠ] aufmerksamâ machen
zu wollen,38 bleibt Handke in der Folge weitgehend treu, obschon die Idee einer
analytischen Durchdringung mitunter von polemischen Volten unterlaufen wird.
Am Beispiel der âNatĂŒrlichkeitâ, die er als eines von Reich-Ranickis âheftigge-
brauchten Lobeswörter[n]â registriert, fĂŒhrt Handke â auch hier geschult an
Ć klovskij und EichenbaumÂ
â die Aporien eines naiven RealismusverstĂ€ndnisses,
wie er es dem Kritiker attestiert, vor:
DaĂ auch die realistische Methode nicht Natur, sondern gemachtes Modell ist, daĂ sie
am Beginn ihrer Verwendung gekĂŒnstelt und gebastelt gewirkt hat und nur durch den
Gebrauch und die Gewöhnung natĂŒrlich erscheint, will er nicht merken. [âŠ] Reich-
Ranicki will es nicht merken, daĂ jede literarische Methode, solange sie noch etwas
taugt, kĂŒnstlich erscheint, indem sie sowohl den Vorgang des Schreibens als auch
das Geschriebene als Gemachtes, Nicht-NatĂŒrliches, als Gegenwirklichkeit, in jedem
Moment kenntlich macht: er hÀlt einen richtigen erzÀhlenden Satz, niedergeschrieben,
fĂŒr das natĂŒrlichste Ding auf der Welt; aber einen Satz, der, niedergeschrieben,
35 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm. 2), S. 204.
36 Vgl. dazu Michael Linstead: Outer World and Inner World. Socialisation and Emancipation in
the works of Peter Handke, 1964 â 1981. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1988, S.Â
19 â 27; Garvin H. C.
Perram: Peter Handke. The Dynamics of the Poetics and the Early Narrative Prose. Frankfurt
a. M. u. a.: Lang 1992, S.Â
66, 80, 113 â 116, 129 u.Â
249 â 254; vgl. zuletzt auch Harald Gschwandtner:
Peter Handkes epitextuelle Werkpolitik. In: Paratextuelle Politik und Praxis. Interdependenzen
von Werk und Autorschaft. Hg. v. Martin GerstenbrÀun-Krug u. Nadja Reinhard. Wien u. a.:
Böhlau 2018, S. 271 â 292, bes. S. 276 â 279. Handke hatte sich in den âBĂŒchereckeâ-Sendungen
vom 11. 10. 1965 und 17. 1. 1966 mit groĂem Interesse auf Ć klovskij, Eichenbaum und Roman
Jakobson berufen. Vgl. Handke: Tage und Werke (Anm. 24), S. 243 f. u. 264.
37 Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. [1967] In: P. H.: Ich bin ein Bewohner
des Elfenbeinturms (Anm. 2), S. 19 â 28, hier S. 26.
38 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm. 2), S. 203.
Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 151
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471