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die Rede sein.70 Nicht nur attestiert er dem Autor in einem Schnelldurchlauf
durch das bisherige Ćuvre, mit Die Hornissen und Der Hausierer im Grunde
âindiskutable Prosaâ vorgelegt zu haben, sondern konstatiert auch ein Schei-
tern seines aktuellen ErzÀhlprojekts, das nach dem Kurzen Brief zum langen
Abschied (1972), âseinem auf jeden Fall besten Buchâ,71 einen veritablen RĂŒck-
schritt in Handkes kĂŒnstlerischer Entwicklung darstelle: Der Autor habe sich,
so Reich-Ranicki, zwar mittlerweile von seiner frĂŒheren âhochgestochene[n]
Wichtig tuereiâ verabschiedet, seine Texte litten gleichwohl noch immer an einem
ĂbermaĂ unfruchtbaren âTheoretisieren[s]â: â[I]mmer wiederâ zeigten sich in
Wunschloses UnglĂŒck âallerlei Hemmungen und Skrupel eines Schriftstellersâ,
âder leider allzuviel theoretisiert und der sich offenbar sehr Ă€ngstigt, was er
schreibt, könne als unmodern abgetan werden.â 72 Dementsprechend stöĂt sich
der Kritiker gerade an jenen metanarrativen Passagen der ErzÀhlung, die seine
Hoffnung, Handke sei nun (endlich) âan einer mehr oder weniger realistischen
Schilderung gelegenâ, nur zu deutlich enttĂ€uschen mussten.73 Nimmt man die
abschlieĂende Wendung der Rezension in den Blick, kann sie freilich auch in
toto als verspĂ€tete â und im Vergleich zum selbstbewussten Wiederabdruck
1970 weniger konziliante â Antwort auf Handkes NatĂŒrlichkeits-Essay verstan-
den werden. In einer fĂŒr seine literaturkritische Praxis typischen Verquickung
von Autor-Psychologie und bildungsbĂŒrgerlichem Klassiker-Zitat 74 konstatiert
Reich-Ranicki im letzten Absatz:
Wenn er nur seine Àsthetischen Gewissensbisse und seine vielen theoretischen Hem-
mungen ĂŒberwinden wollte und unverkrampft und natĂŒrlich erzĂ€hlen könnte. Denn
70 Vgl. dazu, mit genauem Blick auf die kontrÀren Àsthetischen Positionen der beiden Akteure,
Perram: Peter Handke (Anm. 36), S. 77: âReich Ranickiâs critique of Handkeâs Wunschloses
UnglĂŒck [âŠ] contains ample material to justify Handkeâs attack on Reich-Ranickiâs critical
method.â
71 Reich-Ranicki: Die Angst des Peter Handke beim ErzĂ€hlen (Anm.Â
56). In den Sammelband Ent-
gegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre (1979) hat Reich-Ranicki die Rezension unter
dem leicht abweichenden Titel Die Angst des Dichters beim ErzĂ€hlen (S.Â
315 â 322) aufgenommen.
72 Reich-Ranicki: Die Angst des Peter Handke beim ErzÀhlen (Anm. 56). Werner Graf: Peter
Handke und seine Kritiker. Zu Motiven der Rezeption von Gegenwartsliteratur. In: Literatur
fĂŒr Leser 27 (2004), H. 2, S. 89 â 101, hier S. 95, der an mancher Stelle zu emphatisch Partei fĂŒr
Handke ergreift, spricht allgemein von einer verbreiteten âTheoriefeindlichkeitâ der Handke-
Rezeption im Feuilleton.
73 Reich-Ranicki: Die Angst des Peter Handke beim ErzÀhlen (Anm. 56).
74 Reich-Ranickis Anspielung auf die letzte Strophe von Schillers BĂŒrgschaft könnte auch als
Replik auf die adaptierte Gretchen-Frage in Handkes Essay gedeutet werden, wo es heiĂt: âZu
seinen wohl wichtigsten Kritikschablonen gehören die normativen SĂ€tze ĂŒber die Wirklichkeit:
die PrĂŒfungsfrage fĂŒr die Schriftsteller lautet: âNun sag, wie hast duâs mit der Wirklichkeit?ââ
(Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit [Anm. 2], S. 203)
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki158
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471