Page - 161 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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an, ĂŒber den engeren Kreis der Kritiker hinaus namhafte Akteure des Literatur-
und Kulturbetriebs als freie Mitarbeiter zu gewinnen, so etwa Golo Mann und
Peter RĂŒhmkorf, die in der Folge regelmĂ€Ăig BeitrĂ€ge fĂŒr die FAZ verfassten,85
aber auch Elias Canetti, dessen Absage, nicht zuletzt angesichts frĂŒherer Verrisse
Reich-Ranickis ĂŒber Canettis BĂŒcher, recht harsch ausfiel:
Ich dachte, Sie wissen, dass ich nicht fĂŒr Zeitungen schreibe. Sie haben schon so frĂŒh
meine AuĂenseiter-Natur erkannt, und jetzt, mit 68, soll ich das plötzlich Ă€ndern?
Ich kann nur schreiben, was ich von mir aus schreiben muss, und nicht VorschlÀge
zum Schreiben von auĂen entgegennehmen. Bei der Vorstellung, dass ich anlĂ€sslich
irgendeines 100. Geburtstags etwas schreibe, muss ich lachen (so wie Sie bei der Lek-
tĂŒre von âMasse und Machtâ). Und dann noch ĂŒber Hofmannsthal, der mir nie etwas
bedeutet hat, den ich im Gegenteil fĂŒr maĂlos ĂŒberschĂ€tzt halte!86
Anfang 1975 erkundigte sich Reich-Ranicki bei Handke, ob er Interesse daran habe,
einen Aufsatz ĂŒber Thomas Mann fĂŒr die Zeitung zu verfassen. Handke zögerte
jedoch: Er habe, so der Autor am 30.Â
Januar 1975, bei seinem Kafka-Text âbemerkt,
dass es eher unglĂŒckselig ist, irgendetwas, auch nur Artikelchen, so ânebenbeiâ zu
schreibenâ; auĂerdem sei seine Thomas-Mann-LektĂŒre âĂŒber zehn Jahre herâ.87
Als Alternative bot er Reich-Ranicki die Einleitung zu einem Band mit ErzÀhlun-
gen des österreichischen Autors Franz Nabl, der im Salzburger Residenz Verlag
vorbereitet wurde, als Vorabdruck an: âAnfang MĂ€rz, oder Ende Februar, werde
ich Ihnen den Aufsatz dann schicken.â 88 Handke hatte Nabl bereits ein Jahr zuvor
Literatur. In: Franz Kafka. Eine Aufsatzsammlung nach einem Symposium in Philadelphia. Hg.
u. eingel. v. Maria Luise Caputo-Mayr. Berlin, Darmstadt: Agora 1978, S. 183 â 193, hier S. 183 f.
85 Vgl. den Einladungsbrief vom 11. 3. 1974. In: Golo Mann/Marcel Reich-Ranicki: Enthusiasten
der Literatur. Ein Briefwechsel. AufsÀtze und Portraits. Hg. v. Volker Hage. Frankfurt a. M.:
S.Â
Fischer 2000, S.Â
19 f., sowie Marcel Reich-Ranicki/Peter RĂŒhmkorf: Der Briefwechsel. Hg. v.
Christoph Hilse u. Stephan Opitz. Göttingen: Wallstein 2015.
86 Elias Canetti an Marcel Reich-Ranicki, 30. 12. 1973. In: Elias Canetti: Ich erwarte von Ihnen viel.
Briefe 1932 â 1994. Hg. v. Sven Hanuschek u. Kristian Wachinger. MĂŒnchen: Hanser 2018, S.Â
460 f.
In seiner 1999 erschienenen Autobiographie hat Reich-Ranicki Canettis Brief in AuszĂŒgen wieder-
gegeben (vgl. M. R.-R.: Mein Leben [Anm.Â
52], S.Â
453). Dazu Sven Hanuschek: Elias Canetti. Bio-
graphie. MĂŒnchen, Wien: Hanser 2005, S. 568, der moniert, der Kritiker habe den Brief durch
KĂŒrzungen mit Absicht âvöllig entstelltâ, um Canetti in einem schlechten Licht dastehen zu lassen.
87 Peter Handke an Marcel Reich-Ranicki, 30. 1. 1975. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach,
Handschriftensammlung, A: Reich-Ranicki, HS.2003.0002.00240. FĂŒr die Genehmigung zur
Verwendung dieses und der folgenden beiden Briefe danke ich Peter Handke sehr herzlich.
88 Ebd. Es handelt sich um den folgenden Band: Franz Nabl: Charakter. Der Schwur des Martin
Krist. Dokument. FrĂŒhe ErzĂ€hlungen. Hg. v. Peter Handke. Salzburg: Residenz 1975; darin
findet sich Handkes auf âFebruar, MĂ€rz 1975â datierter Essay Franz Nabls GröĂe und Klein-
lichkeit (S. 5 â 24) sowie ein Erinnerungstext von Gerhard Roth (S. 149 â 154); Handkes Essay
Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre 161
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471