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an, über den engeren Kreis der Kritiker hinaus namhafte Akteure des Literatur-
und Kulturbetriebs als freie Mitarbeiter zu gewinnen, so etwa Golo Mann und
Peter Rühmkorf, die in der Folge regelmäßig Beiträge für die FAZ verfassten,85
aber auch Elias Canetti, dessen Absage, nicht zuletzt angesichts früherer Verrisse
Reich-Ranickis über Canettis Bücher, recht harsch ausfiel:
Ich dachte, Sie wissen, dass ich nicht für Zeitungen schreibe. Sie haben schon so früh
meine Außenseiter-Natur erkannt, und jetzt, mit 68, soll ich das plötzlich ändern?
Ich kann nur schreiben, was ich von mir aus schreiben muss, und nicht Vorschläge
zum Schreiben von außen entgegennehmen. Bei der Vorstellung, dass ich anlässlich
irgendeines 100. Geburtstags etwas schreibe, muss ich lachen (so wie Sie bei der Lek-
türe von „Masse und Macht“). Und dann noch über Hofmannsthal, der mir nie etwas
bedeutet hat, den ich im Gegenteil für maßlos überschätzt halte!86
Anfang 1975 erkundigte sich Reich-Ranicki bei Handke, ob er Interesse daran habe,
einen Aufsatz über Thomas Mann für die Zeitung zu verfassen. Handke zögerte
jedoch: Er habe, so der Autor am 30.
Januar 1975, bei seinem Kafka-Text „bemerkt,
dass es eher unglückselig ist, irgendetwas, auch nur Artikelchen, so ‚nebenbei‘ zu
schreiben“; außerdem sei seine Thomas-Mann-Lektüre „über zehn Jahre her“.87
Als Alternative bot er Reich-Ranicki die Einleitung zu einem Band mit Erzählun-
gen des österreichischen Autors Franz Nabl, der im Salzburger Residenz Verlag
vorbereitet wurde, als Vorabdruck an: „Anfang März, oder Ende Februar, werde
ich Ihnen den Aufsatz dann schicken.“ 88 Handke hatte Nabl bereits ein Jahr zuvor
Literatur. In: Franz Kafka. Eine Aufsatzsammlung nach einem Symposium in Philadelphia. Hg.
u. eingel. v. Maria Luise Caputo-Mayr. Berlin, Darmstadt: Agora 1978, S. 183 – 193, hier S. 183 f.
85 Vgl. den Einladungsbrief vom 11. 3. 1974. In: Golo Mann/Marcel Reich-Ranicki: Enthusiasten
der Literatur. Ein Briefwechsel. Aufsätze und Portraits. Hg. v. Volker Hage. Frankfurt a. M.:
S.
Fischer 2000, S.
19 f., sowie Marcel Reich-Ranicki/Peter Rühmkorf: Der Briefwechsel. Hg. v.
Christoph Hilse u. Stephan Opitz. Göttingen: Wallstein 2015.
86 Elias Canetti an Marcel Reich-Ranicki, 30. 12. 1973. In: Elias Canetti: Ich erwarte von Ihnen viel.
Briefe 1932 – 1994. Hg. v. Sven Hanuschek u. Kristian Wachinger. München: Hanser 2018, S.
460 f.
In seiner 1999 erschienenen Autobiographie hat Reich-Ranicki Canettis Brief in Auszügen wieder-
gegeben (vgl. M. R.-R.: Mein Leben [Anm.
52], S.
453). Dazu Sven Hanuschek: Elias Canetti. Bio-
graphie. München, Wien: Hanser 2005, S. 568, der moniert, der Kritiker habe den Brief durch
Kürzungen mit Absicht „völlig entstellt“, um Canetti in einem schlechten Licht dastehen zu lassen.
87 Peter Handke an Marcel Reich-Ranicki, 30. 1. 1975. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach,
Handschriftensammlung, A: Reich-Ranicki, HS.2003.0002.00240. Für die Genehmigung zur
Verwendung dieses und der folgenden beiden Briefe danke ich Peter Handke sehr herzlich.
88 Ebd. Es handelt sich um den folgenden Band: Franz Nabl: Charakter. Der Schwur des Martin
Krist. Dokument. Frühe Erzählungen. Hg. v. Peter Handke. Salzburg: Residenz 1975; darin
findet sich Handkes auf „Februar, März 1975“ datierter Essay Franz Nabls Größe und Klein-
lichkeit (S. 5 – 24) sowie ein Erinnerungstext von Gerhard Roth (S. 149 – 154); Handkes Essay
Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre 161
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471