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Frauâ offeriert er nun ein Journal mit dem anspruchsvollen Titel âDas Gewicht
der Weltâ, das spontane Aufzeichnungen zweckfreier Wahrnehmungen enthĂ€lt.â 117
Aus seiner vehementen Ablehnung des kurz zuvor im Salzburger Residenz Ver-
lag erschienenen Bandes Das Gewicht der Welt machte Reich-Ranicki keinen
Hehl. Ihm galt, ebenso wie anderen Rezensenten,118 die radikale Introspektion
des Journals, die âReportage eines Einzel-BewuĂtseins, veröffentlicht als Buchâ,119
als Irrweg eines narzisstischen Autors, die von Handke forcierte âBefreiung von
gegebenen literarischen Formenâ als bemĂŒhter, aber unproduktiver Ansatz.120
In einer Notiz zu einem GesprÀch mit Peter Handke im Juni 1978 hielt Siegfried
Unseld die tiefsitzende Verletzung des Autors gerade angesichts von Reich-
Ranickis Kritik der LinkshÀndigen Frau fest, die gut eineinhalb Jahre nach der
Veröffentlichung offensichtlich immer noch sehr prÀsent war:
Und dann, nach einigen GlĂ€sern Wein, Ă€uĂerte sich bei ihm ein HaĂ gegen die Bundes-
republik, ein Land, das zu nichts mehr fÀhig sei, ein Kadaver, eine vom Erdbeben
verwĂŒstete Gegend.Â
[âŠ] Und sofort fĂŒgte er hinzu: in der Bundesrepublik ist GröĂe
nicht mehr möglich. Auslösender Moment fĂŒr diesen HaĂ ist die Behandlung seiner
âLinkshĂ€ndigen Frauâ, die Behandlung des Buches durch die âFAZâ und die Behand-
lung des Filmes durch die Kritiker.121
Ende der 1970er Jahre schlieĂlich sollte sich das VerhĂ€ltnis zwischen Handke
und Reich-Ranicki in einer Weise zuspitzen, die deshalb besondere Aufmerk-
samkeit verdient, weil die Eskalation der Beziehung zwischen Autor und Kriti-
ker mit einer grundlegenden Neuausrichtung von Handkes Schreiben zusam-
menfÀllt. Sie verlÀuft zudem parallel zur Entzweiung zwischen Handke und
Thomas Bernhard, dessen autobiographische BĂ€nde Reich-Ranicki im April 1978
zu âden groĂen literarischen Dokumenten unserer siebziger Jahreâ rechnete.122
117 Marcel Reich-Ranicki: Deutsche Literatur 1977. Ein Ăberblick aus AnlaĂ der Frankfurter Buch-
messe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 10. 1977.
118 Vgl. etwa Ulrich Greiner: Peter Handke und das GlĂŒcksgefĂŒhl, eine Flasche Mineralwasser
anschauen zu können. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 10. 1977; Hans Christoph Buch:
Der vollkommene Schauspieler. Ăber Peter Handke: Das Gewicht der Welt. In: Der Spiegel,
Nr.Â
37, 5. 9. 1977, S.Â
197 â 201; Reinhold Tauber: Ein Talent macht Pause. Ein âJournalâ lĂ€Ăt erken-
nen: Peter Handke tritt auf der Stelle. In: Oberösterreichische Nachrichten, 5. 10. 1977.
119 Handke: Das Gewicht der Welt (Anm. 99), S. 6.
120 Ebd., S.Â
5. Vgl. dazu Hage/Schreiber: Marcel Reich-Ranicki (Anm.Â
57), S.Â
108: âDas Skizzenhafte
und Ungeordnete dieses Werks [i. e. Das Gewicht der Welt] war Reich-Ranickis Sache nicht.â
121 Unseld: Peter Handke, 23.Â
Juni 1978. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.Â
60), S.Â
346 f.
122 Marcel Reich-Ranicki: In entgegengesetzter Richtung. [1978] In: M. R.-R.: Thomas Bernhard.
AufsĂ€tze und Reden. Mit Fotografien v. Barbara Klemm. ZĂŒrich: Ammann 1990, S.Â
43 â 58, hier
S. 58. Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre 169
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471