Page - 174 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Feuilleton markierte Peter Handke und der liebe Gott eine extreme Variante der
Ablehnung, die einen Widerspruch des derart Attackierten nachgerade provo-
zierte. Ăffentlich schwieg der Autor jedoch einstweilen.
Mitunter sei ihm, so Handke knapp zwei Wochen spÀter in einem Brief an
Hermann Lenz, âauch das Böseste ganz recht; als ob es dazugehört. Obâs mich
weiterbringt, das weiĂ ich freilich nicht.â 142 Lenz riet seinem Freund postwen-
dend, sich âvorzustellen, wie man dem Schreiber bei der nĂ€chsten Gelegenheit
gegen das Schienbein treten wirdâ, seine Aggression ansonsten aber fĂŒr sich zu
behalten; er war sich freilich bewusst, dass âNichtbeachtungâ mitunter âam mĂŒh-
samsten zu erlernenâ ist: âSchade, dass man nicht stumpfsinniger wird, zumin-
dest gegenĂŒber so etwas.â 143 Handke verzichtete in der Folge zwar einstweilen
auf eine öffentliche Entgegnung,144 widmete sich im FrĂŒhjahr 1980 im Zuge der
Niederschrift von Die Lehre der Sainte-Victoire aber einer neuen, zunÀchst ver-
deckten Form der polemischen Erwiderung: Er lieĂ den Kritiker dabei, wie im
Folgenden im Detail gezeigt wird, nach seiner ErwÀhnung in den experimen-
tellen Deutschen Gedichten von 1969 ein weiteres Mal in einem dezidiert litera-
rischen Text auftreten.145
In Langsame Heimkehr hatte Handke seinen Protagonisten Sorger âdie Kraft
zu einer bleibenden Versöhnungâ an sich wahrnehmen lassen, die auf âHarmonieâ,
âSyntheseâ und âHeiterkeitâ gerichtet sei.146 Reich-Ranickis Rezension, die die
ErzĂ€hlung mit Bezug auf Passagen wie diese als Ă€rgerliche âErbauungsliteraturâ
diskreditiert hatte,147 hebelte das in Langsame Heimkehr skizzierte, gleichwohl
als stets gefÀhrdet geschilderte Ideal der Konzilianz und Friedfertigkeit nachhal-
tig aus. Wiederholt hat Handke auf diesen Widerstreit in seiner charakterlichen
142 Handke an Lenz, 29. 11. 1979. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des Tages (Anm. 103), S. 139.
143 Lenz an Handke, 10. 12. 1979. In: ebd., S.Â
140. In Lenzâ ĂuĂerung zu Reich-Ranickis Besprechung
wurden, so der Kommentar, â[z]wei Worte aus GrĂŒnden des Persönlichkeitsschutzes getilgtâ
(ebd., S. 344).
144 Er hatte sich die entsprechende ZurĂŒckhaltung bereits einige Jahre zuvor auferlegt: âIch wĂŒrde
das [i. e. eine Antwort auf negative Kritiken zu schreiben] nicht mehr machen.â (Durzak/
Handke: FĂŒr mich ist Literatur auch eine Lebenshaltung [Anm. 81], S. 330)
145 In einem der BriefumschlÀge des 1969 ausgelieferten Buches Deutsche Gedichte (erschienen
im Frankfurter Euphorion Verlag) befand sich eine Liste mit dem Titel âProminente Kritiker
empfehlen neue BĂŒcherâ, in der u. a. der folgende Eintrag verzeichnet war: âMARCEL REICH-
RANICKI: Alfred Polgar: AuswahlÂ
/ Er war ein Grandseigneur der deutschen Prosa.â Das von
Handke verwendete Zitat stammt aus Marcel Reich-Ranicki: Alfred Polgars sanfte Gewalt. Eine
neue Auswahl seiner Prosa aus vier Jahrzehnten. In: DIE ZEIT, Nr.Â
24, 15. 6. 1968. Daneben fin-
den sich auf der gefalteten A4-Seite auch knappe Buchempfehlungen von Helmut HeiĂenbĂŒttel
(ĂŒber Gisela Elsner), Urs Jenny (ĂŒber Hubert Selby), Walter Jens (ĂŒber Hubert Fichte) und Rolf
Michaelis (ĂŒber Peter O. Chotjewitz).
146 Handke: Langsame Heimkehr (Anm. 28), S. 140.
147 Reich-Ranicki: Peter Handke und der liebe Gott (Anm. 129).
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki174
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471