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ErzÀhlung gerade dies zum Vorwurf: Der Kritiker sei darauf aus gewesen, ihn als
Schreibenden zu âvernichtenâ. âEs gab eine Zeit, in der ich von konvulsivischem
Widerwillen befallen wurde, sobald dieser Mann nur in Erscheinung trat. Er hat
ĂŒber Jahre versucht, mich zu vernichten. Er hatte die Illusion, das zu können.â 197
Im GesprĂ€ch mit AndrĂ© MĂŒller hat Handke auf diese Erfahrung existentieller
Bedrohung mit nicht eben feiner Klinge reagiert, was Reich-Ranicki wenige Jahre
spĂ€ter in seiner Autobiographie, wohl nicht ganz zu Unrecht, als ungebĂŒhrliche
Entgleisung auffassen sollte: âWas in der Literatur herumkrabbelt, das möchte
man alles vernichtenâ,198 lautet der Satz, mit dem Handke das GesprĂ€ch auf die
entsprechende Passage der Lehre der Sainte-Victoire und die Person des Kritikers
lenkte; und gleich darauf: âIch kenne viele, die finden ihn amĂŒsant. Die haben
gar keinen Stolz. Die sagen, wenn der einmal stirbt, wird man das sehr bedauern.
Dem kann ich nun nicht beipflichten.â 199
Die Imagination des toten Kritikers, der in der deutschen Literatur bekannt-
lich zahlreiche weitere âMordlĂŒsteâ und âTodeswĂŒnscheâ folgen sollten,200 findet
sich bereits in der Lehre der Sainte-Victoire selbst, wissen doch die beiden Kon-
trahenten, Mensch und Hund, ab einem bestimmten Zeitpunkt, dass sie âauf
ewig Todfeindeâ sein wĂŒrden: â[J]a, jetzt trachtete er mir nach dem Leben; und
auch ich wollte mit einem Machtwort ihn tot und weg haben.â 201 Der ErzĂ€hler
fĂŒhlt sich â[s]prachlos vor HaĂâ, aber âzugleich schuldbewuĂtâ, weil er â[f]ĂŒr das,
was [er] vorhabeâ, nicht hassen dĂŒrfe 202Â â ist sein âIdealâ doch, wie er im weite-
ren Verlauf der Lehre formuliert, âseit je der sanfte Nachdruck und die begĂŒti-
gende Abfolge einer ErzĂ€hlungâ.203 Bei einem erneuten Weg ĂŒber den Berg ist der
197 MĂŒller: Im GesprĂ€ch mit Peter Handke (Anm. 112), S. 65.
198 Ebd., S. 88.
199 Ebd., S. 89. Vgl. Reich-Ranicki: Mein Leben (Anm. 52), S. 446: âMeinen Tod wĂŒnschte auch
Peter Handke, jedenfalls wĂŒrde er ihn nicht bedauern: In seinem aus dem Jahr 1980 stammen-
den Buch âDie Lehre der Sainte-Victoireâ stellt er mich als bellenden und geifernden âLeithundâ
dar, âin dem sich gleichsam etwas Verdammtes umtriebâ und dessen âMordlustâ vom Getto noch
verstĂ€rkt worden war.â Vgl. dazu Anm. 28 â 30.
200 Daniela Strigl: Platzanweiser im circus maximus? Traum und Wirklichkeit der Literatur-
kritik. In: Literatur und Kritik (2001), H. 353/354, S. 24 â 30, hier S. 27. Auf die diversen âlite-
rarischen Phanta sien vom Tod des gehassten Kritikersâ Marcel Reich-Ranicki, von Helmut
HeiĂenbĂŒttel ĂŒber Martin Walser bis Christa Reinig, verweisen Anz: Marcel Reich-Ranicki
(Anm. 15), S. 150 â 155, Zit. S. 151, und Wittstock: Marcel Reich-Ranicki (Anm. 15), S. 251 â 253.
201 Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 10), S. 60.
202 Ebd., S. 60 f.
203 Ebd., S. 99. Vgl. dazu auch Handkes ĂuĂerung in Krista Fleischmann/Peter Handke: Ein
GesprĂ€ch ĂŒber das Schreiben und die Kindergeschichte. In: Die Rampe (1981), H. 2, S. 7 â 15,
hier S. 9 f.: âWie ich schon in der âLangsamen Heimkehrâ geschrieben habe, ich glaube an die
Geschichte als eine friedensstiftende Form.Â
[âŠ] Ich will die Geschichte der friedlichen Menschen
schreiben, daraus die Kraft gewinnen.â
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki184
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471