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CĂ©zanne konnte dem Bild zeitlebens nicht mehr seine endgĂŒltige Gestalt
geben, er sah sich, so der Kunsthistoriker Oskar BĂ€tschmann, zwei Jahre vor
seinem Tod gezwungen, den ĂŒber lange Zeit gehegten Traum aufzugeben, das
GemĂ€lde noch auszufĂŒhren.208 Auf der kleinformatigen Ălskizze ApothĂ©ose
de Delacroix, die sich heute im Pariser MusĂ©e dâOrsay befindet, ist der Hund
neben den anderen genannten Figuren zu sehen, er befindet sich jedoch kei-
neswegs, wie Bernard behauptet, âin einem Winkelâ, sondern vielmehr an der
Seite CĂ©zannes.209
Steht die Parallelsetzung der beiden animalischen Kunstkritik-Allego-
rien bei CĂ©zanne und Handke somit unter einem gewissen Vorbehalt, weil
Bernards Kommentar in diesem Detail nicht mit den ĂŒberlieferten EntwĂŒrfen
der ApothĂ©ose ĂŒbereinstimmt, verfolgen bildende Kunst und Literatur hier
doch Àhnliche Ziele. Wie die Lehre der Sainte-Victoire liefert auch die viele
Jahrzehnte zuvor entstandene Apothéose de Delacroix den Entwurf eines posi-
tiven Traditionsbezugs: â[D]urch die gute Arbeit bin ich endlich wieder den
Vorfahren angeschlossen und kann mich mit ihnen denken; auch mit den
KĂŒnstler-Vorfahrenâ, hatte Handke gegen Ende der 1970er Jahre im Journal
Die Geschichte des Bleistifts notiert.210 CĂ©zannes Allegorisierung des Kunstsys-
tems durchaus vergleichbar, schildert die Lehre der Sainte-Victoire als poeto-
logische Programmschrift das VerhĂ€ltnis der kĂŒnstlerischen Generationen als
harmonische und wertschĂ€tzende translatio, wobei das âBemĂŒhenâ des ErzĂ€h-
lers, âsich seiner Legitimation als Schriftsteller zu vergewissernâ,211 ausdrĂŒck-
lich mit dem in der Geschichte des Bleistifts beteuerten âBedĂŒrfnis nach einem
Lehrmeisterâ 212 korrespondiert. Der ErzĂ€hler der Lehre, der schon im ersten
Satz des Buches davon berichtet, sich nach seiner RĂŒckkehr nach Europa der
âtĂ€gliche[n] Schriftâ gewidmet und âvielesâ neu gelesen zu haben,213 zeigt sich
im weiteren Verlauf der Handlung als genauer Leser, der in der LektĂŒre immer
auch den Anschluss an kĂŒnstlerische Tradition und vorbildliche Texte â etwa
Adalbert Stifters Bergkristall â sucht.
Reulecke: Geschriebene Bilder (Anm.Â
183), S.Â
61, zeichnet CĂ©zanne als bildenden KĂŒnstler, der
sich âgegen die etablierte Kunstkritikâ gewendet habe. Nicht zuletzt deshalb habe er âjungen
KĂŒnstler[n]â und Autoren, âdie die offiziellen Instanzen des Kunstbetriebes und die zuneh-
mende Verdinglichung der Kunstwerke im Zusammenhang des kapitalistischen Kunstmarktes
in Frage stellenâ, als Leitfigur gedient (ebd.).
208 Vgl. BĂ€tschmann: AusstellungskĂŒnstler (Anm. 206), S. 109.
209 Eine Reproduktion der Skizze findet sich u. a. ebd., S. 110.
210 Handke: Die Geschichte des Bleistifts (Anm. 194), S. 114.
211 Ellen Dinter: Gefundene und erfundene Heimat. Zu Peter Handkes zyklischer Dichtung: Lang-
same Heimkehr. 1979 â 1981. Köln, Wien: Böhlau 1986, S. 153.
212 Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 10), S. 33.
213 Ebd., S. 9.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki186
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471