Seite - 186 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Cézanne konnte dem Bild zeitlebens nicht mehr seine endgültige Gestalt
geben, er sah sich, so der Kunsthistoriker Oskar Bätschmann, zwei Jahre vor
seinem Tod gezwungen, den über lange Zeit gehegten Traum aufzugeben, das
Gemälde noch auszuführen.208 Auf der kleinformatigen Ölskizze Apothéose
de Delacroix, die sich heute im Pariser Musée d’Orsay befindet, ist der Hund
neben den anderen genannten Figuren zu sehen, er befindet sich jedoch kei-
neswegs, wie Bernard behauptet, „in einem Winkel“, sondern vielmehr an der
Seite Cézannes.209
Steht die Parallelsetzung der beiden animalischen Kunstkritik-Allego-
rien bei Cézanne und Handke somit unter einem gewissen Vorbehalt, weil
Bernards Kommentar in diesem Detail nicht mit den überlieferten Entwürfen
der Apothéose übereinstimmt, verfolgen bildende Kunst und Literatur hier
doch ähnliche Ziele. Wie die Lehre der Sainte-Victoire liefert auch die viele
Jahrzehnte zuvor entstandene Apothéose de Delacroix den Entwurf eines posi-
tiven Traditionsbezugs: „[D]urch die gute Arbeit bin ich endlich wieder den
Vorfahren angeschlossen und kann mich mit ihnen denken; auch mit den
Künstler-Vorfahren“, hatte Handke gegen Ende der 1970er Jahre im Journal
Die Geschichte des Bleistifts notiert.210 Cézannes Allegorisierung des Kunstsys-
tems durchaus vergleichbar, schildert die Lehre der Sainte-Victoire als poeto-
logische Programmschrift das Verhältnis der künstlerischen Generationen als
harmonische und wertschätzende translatio, wobei das „Bemühen“ des Erzäh-
lers, „sich seiner Legitimation als Schriftsteller zu vergewissern“,211 ausdrück-
lich mit dem in der Geschichte des Bleistifts beteuerten „Bedürfnis nach einem
Lehrmeister“ 212 korrespondiert. Der Erzähler der Lehre, der schon im ersten
Satz des Buches davon berichtet, sich nach seiner Rückkehr nach Europa der
„tägliche[n] Schrift“ gewidmet und „vieles“ neu gelesen zu haben,213 zeigt sich
im weiteren Verlauf der Handlung als genauer Leser, der in der Lektüre immer
auch den Anschluss an künstlerische Tradition und vorbildliche Texte – etwa
Adalbert Stifters Bergkristall – sucht.
Reulecke: Geschriebene Bilder (Anm.
183), S.
61, zeichnet Cézanne als bildenden Künstler, der
sich „gegen die etablierte Kunstkritik“ gewendet habe. Nicht zuletzt deshalb habe er „jungen
Künstler[n]“ und Autoren, „die die offiziellen Instanzen des Kunstbetriebes und die zuneh-
mende Verdinglichung der Kunstwerke im Zusammenhang des kapitalistischen Kunstmarktes
in Frage stellen“, als Leitfigur gedient (ebd.).
208 Vgl. Bätschmann: Ausstellungskünstler (Anm. 206), S. 109.
209 Eine Reproduktion der Skizze findet sich u. a. ebd., S. 110.
210 Handke: Die Geschichte des Bleistifts (Anm. 194), S. 114.
211 Ellen Dinter: Gefundene und erfundene Heimat. Zu Peter Handkes zyklischer Dichtung: Lang-
same Heimkehr. 1979 – 1981. Köln, Wien: Böhlau 1986, S. 153.
212 Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire (Anm. 10), S. 33.
213 Ebd., S. 9.
„Mein Feind in Deutschland“: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki186
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471