Page - 195 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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ĂŒber die Handlungsarmut eines Handkeâschen Textes lustig: âSagen Sie mal, was
steht in dem Buch drin? Obwohl ichâs gelesen habe, hĂ€tte ichâs gern von Ihnen
gewusst.â 251 Hatte Reich-Ranicki gar jene kurze Szene, in der, an Robert Musils
Hasenkatastrophe erinnernd, ein âgrazile[r], edelköpfige[r] Hundâ einen wehr-
losen Hasen zur Strecke bringt, bevor dieser âblutnaĂâ, mit âerschlaffende[n]
Pfoten, noch ein wenig zuckendâ, vom Ort der Gewalt weggebracht wird,252 auf
sich bezogen, und das womöglich zu Recht? Hellmuth Karaseks Hinweis, er
habe im Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit eine âfast Thomas Bernhardâsche Stelleâ
entdeckt, quittierte Reich-Ranicki jedenfalls umgehend und energisch mit der
Ermahnung, Karasek solle âdie Namen groĂer Schriftsteller nicht unnĂŒtz im
Munde fĂŒhrenâ.253 Bernhard, wenige Monate zuvor verstorben, stand bei Reich-
Ranicki sehr viel höher im Kurs als dessen Antipode; der Kritiker spielte die
beiden Autoren des Ăfteren zu Ungunsten des JĂŒngeren gegeneinander aus.
Es lohnt sich, die Beziehung zwischen Bernhard und Reich-Ranicki als
Kontrast folie kurz genauer in den Blick zu nehmen. ZunÀchst durchaus skep-
tisch, weil âBernhards Reflexionenâ, so Reich-Ranickis Besprechung von Unge-
nach (1968), âmeist zwar radikal, aber zugleich etwas banalâ seien 254 und der
Autor zudem an einem âMangel an schriftstellerischer Selbstdisziplinâ laborie-
re,255 brachte er Thomas Bernhard und dessen Literatur im Laufe der Jahre immer
gröĂere Sympathie entgegen. Bereits 1965 hatte er den Autor gebeten, eine in der
Neuen Rundschau publizierte ErzÀhlung in die Anthologie Erfundene Wahrheit
aufnehmen zu dĂŒrfen: â[W]enn Ihnen meine ErzĂ€hlung âDer Zimmererâ gefallen
hat, so möchte ich sie Ihnen gerne fĂŒr ein Buch, das Sie im Piper-Verlag heraus-
geben, ĂŒberlassenâ, willigt Bernhard am 19. MĂ€rz 1965 brieflich ein.256 In einem
251 Reich-Ranicki: Peter Handke, Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit (Anm. 249), 24:00 â 24:07; vgl. Das
Literarische Quartett. Bd. 1 (Anm. 249), S. 181.
252 Handke: Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit (Anm. 226), S. 63 f.
253 Reich-Ranicki: Peter Handke, Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit (Anm. 249), 32:19 â 32:27; vgl. Das
Literarische Quartett. Bd. 1 (Anm. 249), S. 183 f.
254 Marcel Reich-Ranicki: Finstere Wollust aus Ăsterreich. Die ErzĂ€hlungen des Thomas Bernhard.
In: DIE ZEIT, Nr. 43, 25. 10. 1968.
255 Marcel Reich-Ranicki: Leichen im Ausverkauf. In: DIE ZEIT, Nr.Â
51, 19. 12. 1969. Der Autor neige,
so Reich-Ranicki mit Blick auf Bernhards Publikationen des Jahres 1969 (Watten bei Suhrkamp,
An der Baumgrenze bei Residenz sowie Ereignisse im Verlag des Literarischen Colloquiums),
zu âleichtfertige[m] Publizierenâ, was zum Gestus eines âErzĂ€hler[s], der sich offenbar gegen
fixe Ideen und Obsessionen wehren muĂ und der seine Ziele mit monomanischer Unbedingt-
heit verfolgtâ, in Widerspruch stehe.
256 Thomas Bernhard an Marcel Reich-Ranicki, 19. 3. 1965. In: Deutsches Literaturarchiv Marbach,
Handschriftensammlung, A: Reich-Ranicki, HS.2003.0002.00153: âIch arbeite jetzt an einer
Prosaarbeit, die mich, ausser, wenn ich mich dagegen wehre, vollkommen in Anspruch nimmt,
und habe keine Zeit, andere kĂŒrzere StĂŒcke anzuschauen und eventuell zu korrigieren und so
muss ich es beim Zimmerer lassen.â Siehe Thomas Bernhard: Der Zimmerer. In: Erfundene
Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 195
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471