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er sich, etwa mit BĂ€nden wie Lauter Verrisse, wiederholt selbst als ein solcher
inszeniert hatte. Der österreichische Autor, Philosoph und Publizist Franz Schuh
hat Reich-Ranicki gerade diesen double speak zum Vorwurf gemacht: âEin Kri-
tiker, der sich selbst dadurch kenntlich machen will, daĂ er bildlich sich auf das
ZerreiĂen eines Buches reduziert, ist sehr einprĂ€gsam.â 297 Reich-Ranicki hatte
dem öffentlichkeitswirksamen Bild vom âVerreiĂerâ jahrelang zugearbeitet und
daraus eine Marke mit starkem Wiedererkennungswert auch jenseits des enge-
ren Literaturbetriebs etabliert; dass er sich nun darĂŒber echauffierte, das von
ihm selbst sorgsam genÀhrte Image im Spiegel vorgehalten zu bekommen, trug
durchaus ZĂŒge der Heuchelei.298 Im Zuge des zitierten GesprĂ€chs bezog sich
Reich- Ranicki auĂerdem ein weiteres Mal auf Goethes Rezensenten-Gedicht
aus dem Jahr 1774, das mit dem berĂŒhmt-berĂŒchtigten Vers âSchlagt ihn tot den
Hund! Er ist ein Rezensentâ 299 endet; er hatte es schon 1991 in der Frankfurter
Anthologie als das âdĂŒmmsteâ Gedicht des âunverbesserliche[n] Vielschreiber[s]â
Goethe bezeichnet.300 Der Text galt Reich-Ranicki zeitlebens als unverzeihlicher
Lapsus des Klassikers, an den er sich nun angesichts der Handkeâschen Allegorie
und des aktuellen Spiegel-Covers erneut erinnert fĂŒhlte.301 Handke wiederum
hat Goethes Gedicht noch 2015 im TheaterstĂŒck Die Unschuldigen, ich und die
Unbekannte am Rand der LandstraĂe variierend aufgegriffen.302
ErzĂ€hlenÂ
â ArgumentierenÂ
â Beschreiben (Anm.Â
189), S.Â
415 f.; Herwig Gottwald: âIn wie vielen
Zeitungsfotos von Mördern ich mich wiedererkenne!â Handke und das âBöseâ. In: Schreiben
als Weltentdeckung (Anm. 230), S. 201 â 213, hier S. 209 f.
297 Schuh: All you need is love (Anm. 27), S. 94.
298 Vgl. die Bemerkungen ebd., S. 93 f.
299 Johann Wolfgang Goethe: [Da hatt ich einen Kerl zu Gast]. In: J. W. G.: SĂ€mtliche Werke nach
Epochen seines Schaffens. MĂŒnchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit
Herbert G. Göpfert u. a. Bd. 1.1: Der junge Goethe. 1757 â 1775. Hg. v. Gerhard Sauder. MĂŒn-
chen: Hanser 1985, S. 223 â 224, hier S. 224. Die Ăberschrift âRezensentâ wurde dem zunĂ€chst
ohne Titel gedruckten Gedicht erst spĂ€ter hinzugefĂŒgt; vgl. Burkhard Moennighoff: Goethes
Gedichttitel. Berlin, New York: de Gruyter 2000, S. 75 f.
300 Marcel Reich-Ranicki: Ein Gegner der Meinungsfreiheit. In: Frankfurter Anthologie. Bd. 14.
Gedichte und Interpretationen. Hg. v. M. R.-R. Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 1991, S. 30 â 32,
hier S. 32.
301 Vgl. ebd., S.Â
32: âIndem Goethe seine Leser auffordert, die Rezensenten totzuschlagen, entpuppt
er sich als ein AnhĂ€nger der Todesstrafe [?] und als ein Gegner der Meinungsfreiheit; ĂŒberdies
ist auch der Tatbestand der Volksverhetzung [?] erfĂŒllt.â Siehe dazu Porombka: Gemengelagen
lesen (Anm. 62), S. 109.
302 Vgl. Peter Handke: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der LandstraĂe. Ein
Schauspiel in vier Jahreszeiten. Berlin: Suhrkamp 2015, S. 94: âJeder Fremde ist ihm lieber als
ein-Nachbar [sic]. Auf unsere Nachbarschaftsfeste spuckt er. Nachbar ist ihm gleich Bluthund:
âSchlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Nachbar!â Er ist gegen die Macht und möchte doch der
sein, der das Machtwort spricht.â
SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 205
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471