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Kunst und Kultur
Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Über einen Toten soll nichts Schlechtes geredet werden, sagen die Leute, es ist geheu- chelt und verlogen. Wie kann ich ĂŒber einen zeitlebens immer scheußlich gewesenen Menschen, der durch und durch ein niedertrĂ€chtiger Charakter gewesen ist, nach sei- nem Tod plötzlich behaupten, er wĂ€re kein scheußlicher Mensch, kein niedertrĂ€chtiger Charakter gewesen, sondern auf einmal ein guter Mensch. Diese Geschmacklosigkeit erleben wir jeden Tag, wenn einer gestorben ist. Wie wir uns nicht scheuen sollten, bei seinem Tode zu sagen, der gute Mensch ist tot, sollten wir uns auch nicht scheuen, zu sagen, der gemeine, der niedertrĂ€chtige ist tot. (TBW 9, 85) Eine ĂŒber die jeweilige Schaffenszeit hinausgehende Bedeutung wollten die bei- den Kontrahenten dem anderen jedenfalls nicht zugestehen: „Ich werd’ Sie in einem Jahr fragen: Wie war das eigentlich betitelt, das BĂŒchlein von Handke? Da werden Sie sich nicht mal an den Titel erinnern können“,353 hatte Reich-Ranicki schon Sigrid Löffler im Literarischen Quartett mit Blick auf den Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit (1990) prophezeit und acht Jahre spĂ€ter am gleichen Ort darĂŒber geklagt, dass Handke „immer noch“ von „manche[n] Leute[n]“ gelesen werde.354 Sah der Kritiker Handke als einen Autor, der sich bereits in den 1970er Jahren ‚aus der Literatur herausgeschrieben‘355 und seitdem erzĂ€hlerisch wie intellektuell dĂŒrftige „Erbauungsliteratur“ 356 publiziert habe, hatte dieser Reich-Ranicki schon 1968 vorgeworfen, der „am meisten selbstgerechte deutsche Literaturkritiker“ zu sein, weil er „statt mit Urteilen nur mit Vorurteilen“ arbeite und zudem keinerlei SensibilitĂ€t fĂŒr innovative, von der Norm und seinen eingeschliffenen Erwar- tungen abweichende literarische Verfahren aufbringen könne.357 Die geschilderte Konfrontation kann auch als Beispiel dafĂŒr dienen, „dass Prozesse der literarischen Kommunikation zwischen Kritikern, rezensier- ten Autoren und anderen Adressaten der Kritik ein Geschehen sind, bei dem Emotionen der Beteiligten eine erhebliche Rolle spielen.“ 358 Volker Hage und 353 Reich-Ranicki: Handke, Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit (Anm.  249), 37:53 – 38:02; vgl. Das Litera- rische Quartett. Bd.  1 (Anm.  249), S.  186. 354 Reich-Ranicki: Handke, In einer dunklen Nacht (Anm.  337), 10:09 – 10:12; vgl. Das Literarische Quartett. Bd.  2 (Anm.  249), S.  600. 355 Vgl. Michaelsen/Handke: „Ab und zu sticht mich ein Teufelchen“ (Anm.  30), S.  126: „Als ‚Das Gewicht der Welt‘ erschien, schrieb er  – ich kann bei ihm das Wort schreiben nur in AnfĂŒhrungszeichen setzen: ‚Damit hat sich Peter Handke aus der Literatur herausgeschrie- ben.‘ Da er gar keinen Verstand fĂŒr subtile, sucherische BĂŒcher hat, hĂ€tte er nie etwas darĂŒber griffeln dĂŒrfen.“ 356 Reich-Ranicki: Peter Handke und der liebe Gott (Anm.  129). 357 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm.  2), S.  206. Lorenz: Die Öffentlich- keit der Literatur (Anm.  25), S.  195, hat auf die „Anachronismen der Kritik bei Marcel Reich- Ranicki“ hingewiesen, Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? (Anm.  4), S.  54, Anm.  44, auf Beispiele einer „antimodernistische[n] Argumentation“. 358 Anz: Werten und FĂŒhlen (Anm.  7), S.  14. „Mein Feind in Deutschland“: Peter Handke vs. Marcel Reich-Ranicki216 © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
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Strategen im Literaturkampf Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Title
Strategen im Literaturkampf
Subtitle
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Author
Harald Gschwandtner
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2021
Language
German
License
CC BY-NC-ND 4.0
ISBN
978-3-205-21231-7
Size
15.7 x 23.9 cm
Pages
482
Keywords
Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
Category
Kunst und Kultur

Table of contents

  1. VORWORT 9
  2. I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
  3. II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
    1. Legitimationen und Strategien 27
    2. EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
    3. „Über diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren 
“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
    4. Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
    5. Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
  4. III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
    1. Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
    2. Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
    3. „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
    4. „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
    5. „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
    6. „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
    7. Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
    8. Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
    9. Literaturkritik als ‚leeres GeschĂ€ft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
    10. „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
    11. „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
    12. Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
  5. IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
    1. Princeton 1966 und die Folgen 141
    2. Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚NatĂŒrlichkeit‘ 150
    3. Die „Àsthetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
    4. Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
    5. „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
    6. Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
    7. Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
    8. Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
    9. SchnĂŒffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
    10. Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
  6. V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
    1. „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
    2. Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
    3. Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
    4. „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut FĂ€rber 246
    5. „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
    6. „wirklich unorthodox“: Handke ĂŒber/mit Ödön von HorvĂĄth 259
    7. Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
    8. Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
  7. VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
    1. Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
    2. „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
    3. „Kanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritiker“ 289
    4. „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
    5. Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
    6. „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
    7. Alte Zöpfe, neue Pferde 322
    8. „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
    9. „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
  8. VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
    1. Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
    2. Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
    3. „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
    4. The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
    5. Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
    6. Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
    7. Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
  9. VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
  10. IX DANKSAGUNG 413
  11. X BIBLIOGRAPHIE 415
    1. PrimÀrliteratur und Quellen 415
    2. Literatur- und Kulturtheorie 433
    3. Forschungsliteratur 435
    4. Rezensionen, Presseberichte, Journalistisches 463
    5. Fernsehsendungen, Audiovisuelle Medien, Webpages 469
  12. XI PERSONENREGISTER 471
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