Seite - 216 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 216 -
Text der Seite - 216 -
Ăber einen Toten soll nichts Schlechtes geredet werden, sagen die Leute, es ist geheu-
chelt und verlogen. Wie kann ich ĂŒber einen zeitlebens immer scheuĂlich gewesenen
Menschen, der durch und durch ein niedertrÀchtiger Charakter gewesen ist, nach sei-
nem Tod plötzlich behaupten, er wĂ€re kein scheuĂlicher Mensch, kein niedertrĂ€chtiger
Charakter gewesen, sondern auf einmal ein guter Mensch. Diese Geschmacklosigkeit
erleben wir jeden Tag, wenn einer gestorben ist. Wie wir uns nicht scheuen sollten,
bei seinem Tode zu sagen, der gute Mensch ist tot, sollten wir uns auch nicht scheuen,
zu sagen, der gemeine, der niedertrÀchtige ist tot. (TBW 9, 85)
Eine ĂŒber die jeweilige Schaffenszeit hinausgehende Bedeutung wollten die bei-
den Kontrahenten dem anderen jedenfalls nicht zugestehen: âIch werdâ Sie in
einem Jahr fragen: Wie war das eigentlich betitelt, das BĂŒchlein von Handke? Da
werden Sie sich nicht mal an den Titel erinnern könnenâ,353 hatte Reich-Ranicki
schon Sigrid Löffler im Literarischen Quartett mit Blick auf den Versuch ĂŒber
die MĂŒdigkeit (1990) prophezeit und acht Jahre spĂ€ter am gleichen Ort darĂŒber
geklagt, dass Handke âimmer nochâ von âmanche[n] Leute[n]â gelesen werde.354
Sah der Kritiker Handke als einen Autor, der sich bereits in den 1970er Jahren
âaus der Literatur herausgeschriebenâ355 und seitdem erzĂ€hlerisch wie intellektuell
dĂŒrftige âErbauungsliteraturâ 356 publiziert habe, hatte dieser Reich-Ranicki schon
1968 vorgeworfen, der âam meisten selbstgerechte deutsche Literaturkritikerâ zu
sein, weil er âstatt mit Urteilen nur mit Vorurteilenâ arbeite und zudem keinerlei
SensibilitĂ€t fĂŒr innovative, von der Norm und seinen eingeschliffenen Erwar-
tungen abweichende literarische Verfahren aufbringen könne.357
Die geschilderte Konfrontation kann auch als Beispiel dafĂŒr dienen, âdass
Prozesse der literarischen Kommunikation zwischen Kritikern, rezensier-
ten Autoren und anderen Adressaten der Kritik ein Geschehen sind, bei dem
Emotionen der Beteiligten eine erhebliche Rolle spielen.â 358 Volker Hage und
353 Reich-Ranicki: Handke, Versuch ĂŒber die MĂŒdigkeit (Anm. 249), 37:53 â 38:02; vgl. Das Litera-
rische Quartett. Bd. 1 (Anm. 249), S. 186.
354 Reich-Ranicki: Handke, In einer dunklen Nacht (Anm. 337), 10:09 â 10:12; vgl. Das Literarische
Quartett. Bd. 2 (Anm. 249), S. 600.
355 Vgl. Michaelsen/Handke: âAb und zu sticht mich ein Teufelchenâ (Anm. 30), S. 126: âAls
âDas Gewicht der Weltâ erschien, schrieb er â ich kann bei ihm das Wort schreiben nur in
AnfĂŒhrungszeichen setzen: âDamit hat sich Peter Handke aus der Literatur herausgeschrie-
ben.â Da er gar keinen Verstand fĂŒr subtile, sucherische BĂŒcher hat, hĂ€tte er nie etwas darĂŒber
griffeln dĂŒrfen.â
356 Reich-Ranicki: Peter Handke und der liebe Gott (Anm. 129).
357 Handke: Marcel Reich-Ranicki und die NatĂŒrlichkeit (Anm.Â
2), S.Â
206. Lorenz: Die Ăffentlich-
keit der Literatur (Anm. 25), S. 195, hat auf die âAnachronismen der Kritik bei Marcel Reich-
Ranickiâ hingewiesen, Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? (Anm.Â
4), S.Â
54, Anm.Â
44,
auf Beispiele einer âantimodernistische[n] Argumentationâ.
358 Anz: Werten und FĂŒhlen (Anm. 7), S. 14.
âMein Feind in Deutschlandâ: Peter Handke vs. Marcel
Reich-Ranicki216
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471