Page - 223 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Schreib-Methode zu befinden, spricht der Rezensent Handke den Texten des
Wochenende-Bandes die QualitÀt und ihren Autoren das nötige Problembewusst-
sein ab.10 Schon im Juli 1965 hatte er dem amerikanischen Autor Joseph Hayes
entsprechend attestiert, dass ihm beim Schreiben âvor sprachlichem Unverstandâ
âdie Handâ ausgeglitten sei,11 was sich in einer bloĂen Reproduktion literarischer
Klischees und stereotyper ErzÀhlmuster niedergeschlagen habe:
Wenn etwa eine junge Frau erscheint, deren Gestalt sich in der Beschreibung âzart
unter dem enganliegenden Kleid abzeichnetâ, dann weiĂ man bereits, wieviel es
geschlagen hat; die Beschreibung des Regens, âder die zarten Linien noch nachziehtâ,
lĂ€Ăt auch nicht lang auf sich warten; und âdas leise Begehrenâ, das den betrachtenden
Mann âganz erfĂŒlltâ, steht auf dem nĂ€mlichen Blatt.12
Hatte er mit Hayes einen âIllustriertenschriftstellerâ 13 attackiert, wendet sich
Handke mit seinen poetologischen Essays und in seiner Besprechung des
Wellershoff- Bandes gegen unmittelbare Konkurrenten im literarischen Feld.
Hier wie dort richtet sich seine Kritik gegen eine Literatur, die ihm âbekannte
Gedanken und GefĂŒhleâ vermittle, âweil die Methoden bekannt sindâ.14 Es han-
delt sich dabei um eine Einsicht, die in Handkes literaturtheoretischen wie lite-
raturkritischen Arbeiten der frĂŒhen Jahre ganz wesentlich auf den Erkenntnissen
der russischen Formalisten beruht, die der junge Autor im Zuge seiner TĂ€tig-
keit fĂŒr die âBĂŒchereckeâ kennen und schĂ€tzen gelernt hatte: âEine neue Form
entsteht nicht, um einen neuen Inhalt zum Ausdruck zu bringenâ, heiĂt es bei
Viktor Ć klovskij, dessen Aufsatzsammlung Theorie der Prosa 1966 in deutscher
Ăbersetzung erschien, âsondern um eine alte Form zu ersetzen, die ihren kĂŒnst-
lerischen Wert verloren hat.â 15 In seiner Besprechung von Boris Eichenbaums
AufsĂ€tzen zur Theorie und Geschichte der Literatur, in denen Ć klovskij wiederholt
zustimmend zitiert wird,16 hat Handke diesen Satz bereits im Oktober 1965, also
10 Vgl. Manfred Mixner: Peter Handke. Kronberg i. Ts.: AthenÀum 1977, S. 175.
11 Peter Handke: âBĂŒchereckeâ vom 5. 7. 1965. In: P. H.: Tage und Werke (Anm.Â
3), S.Â
225 â 232, hier
S. 227.
12 Ebd., S. 228.
13 Ebd.
14 Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Anm. 9), S. 23.
15 Viktor Ć klovskij: Die Beziehungen zwischen den Kunstgriffen des Handlungsaufbaus und den
allgemeinen stilistischen Kunstgriffen. [1916] In: V. S.: Theorie der Prosa. Hg. u. aus dem Rus-
sischen ĂŒbersetzt v. Gisela Drohla. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1966, S. 28 â 61, hier S. 35.
16 Es handelt sich dabei um den folgenden, in der âedition suhrkampâ erschienenen Band: Boris
Eichenbaum: AufsÀtze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1965. Zu den Korrelationen von Handkes frĂŒhen theoretischen Positionen mit jenen des rus-
sischen Formalismus vgl. meine Ăberlegungen in: Peter Handkes epitextuelle Werkpolitik. In:
âAber ich bin kein Kritikerâ 223
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471