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Student, fĂŒr den österreichischen Rundfunk in Graz, besprechen oder mich seiner
annehmen sollte: ich hielt den Autor, Hermann Lenz, fĂŒr einen Ăsterreicher und
dachte, was ist das fĂŒr ein Ăsterreicher, so einen Ăsterreicher, wie der da schreibt,
habe ich noch nie gelesen.47
Der junge Autor, der 1972 mit Der kurze Brief zum langen Abschied und Wunsch-
loses UnglĂŒck zwei seiner bis heute meistgelesenen BĂŒcher vorgelegt hatte, wandte
sich Ende des Jahres brieflich an den bislang kaum beachteten Hermann Lenz,
lernte ihn kurz darauf persönlich kennen und setzte sich in der Folge mit Nach-
druck fĂŒr die Verbreitung von dessen literarischem Werk ein, nicht zuletzt durch
die Vermittlung an die Verlage Insel bzw. Suhrkamp: Im Februar 1976 bekannte
Handke bei einer Lesung in MĂŒnchenÂ
â einem der wenigen öffentlichen Auftritte
des Autors in diesen Jahren â, er, âder ich fast 30 Jahre jĂŒnger bin als Hermann
Lenzâ, sei durchaus âegoistisch stolzâ auf den mittlerweile zum Freund gewor-
denen âfreien Schriftstellerâ, den er an diesem Abend vorstellte.48 Er hatte mit
seinen wiederholten LektĂŒreempfehlungen, legitimiert durch sein symbolisches
Kapital im literarischen Feld, ganz wesentlich dazu beigetragen, Lenz nach Jahr-
zehnten des Schreibens im Verborgenen einem gröĂeren Publikum bekannt zu
machen.49 Sein Engagement fĂŒr Lenz kann geradezu als Paradefall der von Pierre
Bourdieu beschriebenen âKonsekrationsmachtâ etablierter Autoren gelten, die
47 Peter Handke: Hermann Lenz, der Epiker des âundâ, âbeiâ und âmitâ. Rede zur Verleihung des
EuropĂ€ischen Literaturpreises. In: P. H.: MĂŒndliches und Schriftliches. Zu BĂŒchern, Bildern
und Filmen. 1992 â 2002. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S.Â
101 â 111, hier S.Â
102.Â
â In der Rund-
funksendung hatte es diesbezĂŒglich geheiĂen: âEs ist dies nicht nur dem Schauplatz nach ein
im Grunde österreichischer Roman: die zur Schau getragene Gleichmut, die groĂe Verwund-
barkeit im Innern, die Vergangenheitsverhaftung machen den Diener Wasik vertraut lebendig.â
(Handke: âBĂŒchereckeâ vom 18. 1. 1965 [Anm. 43], S. 202)
48 Peter Handke: Hermann Lenz, freier Schriftsteller. [1976] In: P. H.: Das Ende des Flanierens.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S.Â
70 â 73, hier S.Â
73. Auf diese Veranstaltung in MĂŒnchen geht
Handke in seinem Brief an Lenz vom 11. 3. 1976 ein und bekennt, âvorher meine unheilbaren
kleinen ZustĂ€nde, vor Leuten zu seinâ, gehabt zu haben (Handke/Lenz: Berichterstatter des
Tages [Anm. 35], S. 97).
49 Zur Beziehung von Handke und Lenz vgl. Helmut Böttiger/Charlotte Brombach/Ulrich
RĂŒdenauer: Sanfte Bewegungen von auĂen nach innen. Zum Briefwechsel von Peter Handke
und Hermann Lenz. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des Tages (Anm. 35), S. 427 â 444, hier
S. 442: âFĂŒr Hermann Lenz ist die Begegnung mit Peter Handke ein entscheidender Wende-
punkt in seinem Leben. VerblĂŒfft notiert er die ersten Anzeichen, wie er in den Literaturbetrieb
integriert wird, wie sich die Lesungen hĂ€ufen, wie Fragen an ihn gestellt werden, wie er BĂŒcher
signieren soll. Er findet durch Handke Zugang zu einem literarischen und Freundschafts-Zirkel,
der ihm jahrzehntelang verschlossen war.â Vgl. den Bericht von Hermann Lenz: Begegnungen
mit Peter Handke. In: ensemble. Internationales Jahrbuch fĂŒr Literatur 8 (1977), S. 154 â 157.
Dazu Höller: Peter Handke (Anm. 42), S. 79 f.; Malte Herwig: Meister der DÀmmerung. Peter
Handke. Eine Biographie. MĂŒnchen: DVA 22010, S. 199 â 207.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik230
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471