Seite - 230 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Bild der Seite - 230 -
Text der Seite - 230 -
Student, für den österreichischen Rundfunk in Graz, besprechen oder mich seiner
annehmen sollte: ich hielt den Autor, Hermann Lenz, für einen Österreicher und
dachte, was ist das für ein Österreicher, so einen Österreicher, wie der da schreibt,
habe ich noch nie gelesen.47
Der junge Autor, der 1972 mit Der kurze Brief zum langen Abschied und Wunsch-
loses Unglück zwei seiner bis heute meistgelesenen Bücher vorgelegt hatte, wandte
sich Ende des Jahres brieflich an den bislang kaum beachteten Hermann Lenz,
lernte ihn kurz darauf persönlich kennen und setzte sich in der Folge mit Nach-
druck für die Verbreitung von dessen literarischem Werk ein, nicht zuletzt durch
die Vermittlung an die Verlage Insel bzw. Suhrkamp: Im Februar 1976 bekannte
Handke bei einer Lesung in München
– einem der wenigen öffentlichen Auftritte
des Autors in diesen Jahren –, er, „der ich fast 30 Jahre jünger bin als Hermann
Lenz“, sei durchaus „egoistisch stolz“ auf den mittlerweile zum Freund gewor-
denen „freien Schriftsteller“, den er an diesem Abend vorstellte.48 Er hatte mit
seinen wiederholten Lektüreempfehlungen, legitimiert durch sein symbolisches
Kapital im literarischen Feld, ganz wesentlich dazu beigetragen, Lenz nach Jahr-
zehnten des Schreibens im Verborgenen einem größeren Publikum bekannt zu
machen.49 Sein Engagement für Lenz kann geradezu als Paradefall der von Pierre
Bourdieu beschriebenen „Konsekrationsmacht“ etablierter Autoren gelten, die
47 Peter Handke: Hermann Lenz, der Epiker des „und“, „bei“ und „mit“. Rede zur Verleihung des
Europäischen Literaturpreises. In: P. H.: Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern, Bildern
und Filmen. 1992 – 2002. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S.
101 – 111, hier S.
102.
– In der Rund-
funksendung hatte es diesbezüglich geheißen: „Es ist dies nicht nur dem Schauplatz nach ein
im Grunde österreichischer Roman: die zur Schau getragene Gleichmut, die große Verwund-
barkeit im Innern, die Vergangenheitsverhaftung machen den Diener Wasik vertraut lebendig.“
(Handke: „Bücherecke“ vom 18. 1. 1965 [Anm. 43], S. 202)
48 Peter Handke: Hermann Lenz, freier Schriftsteller. [1976] In: P. H.: Das Ende des Flanierens.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S.
70 – 73, hier S.
73. Auf diese Veranstaltung in München geht
Handke in seinem Brief an Lenz vom 11. 3. 1976 ein und bekennt, „vorher meine unheilbaren
kleinen Zustände, vor Leuten zu sein“, gehabt zu haben (Handke/Lenz: Berichterstatter des
Tages [Anm. 35], S. 97).
49 Zur Beziehung von Handke und Lenz vgl. Helmut Böttiger/Charlotte Brombach/Ulrich
Rüdenauer: Sanfte Bewegungen von außen nach innen. Zum Briefwechsel von Peter Handke
und Hermann Lenz. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des Tages (Anm. 35), S. 427 – 444, hier
S. 442: „Für Hermann Lenz ist die Begegnung mit Peter Handke ein entscheidender Wende-
punkt in seinem Leben. Verblüfft notiert er die ersten Anzeichen, wie er in den Literaturbetrieb
integriert wird, wie sich die Lesungen häufen, wie Fragen an ihn gestellt werden, wie er Bücher
signieren soll. Er findet durch Handke Zugang zu einem literarischen und Freundschafts-Zirkel,
der ihm jahrzehntelang verschlossen war.“ Vgl. den Bericht von Hermann Lenz: Begegnungen
mit Peter Handke. In: ensemble. Internationales Jahrbuch für Literatur 8 (1977), S. 154 – 157.
Dazu Höller: Peter Handke (Anm. 42), S. 79 f.; Malte Herwig: Meister der Dämmerung. Peter
Handke. Eine Biographie. München: DVA 22010, S. 199 – 207.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik230
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471