Page - 233 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Romans Der Kutscher und der Wappenmaler seine WertschĂ€tzung fĂŒr Lenzâ Lite-
ratur im Allgemeinen zu betonen:
Es war gerade eine Jahreszeit wie auf einer Eisscholle, so bodenlos dunkel ringsherum,
und manchmal hatte ich AngstzustĂ€nde, daĂ mir beim VorĂŒbergehen an einem leeren
Zimmer die Ohren stachen, aber sobald ich Der Kutscher und der Wappenmaler las,
hörten die GegenstÀnde um mich herum auf, Vorzeichen des Furchtbaren zu sein, und
standen unverrĂŒckbar in dem freundlichen elektrischen Licht, in das ich nun wieder
aufschauen konnte. Ich bekam vom Lesen ein KindheitsgefĂŒhl: als ob nun endlich
alle VermiĂten zu Hause wĂ€ren. Wenn zwischendurch die nĂ€chtliche Stille wieder mit
Bedeutungen drohte, las ich einfach genauer, Wort fĂŒr Wort, und die Bedeutungen
vergingen; das Buch lenkte mich nicht ab von ihnen, sondern es stÀrkte mich gegen
sie; kaum jemals hatte ich mich so geborgen gefĂŒhlt.61
Der Rezensent, der die âfremde Rolleâ des Kritikers sowie die damit assoziierten
âbeliebig verfĂŒgbare[n] Begriffeâ 62 ein Jahr zuvor, in der bereits zitierten Vor-
bemerkung zu Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, demonstrativ von sich
gewiesen hatte, fĂŒhrt hier die Verortung des Lesens im Leben exemplarisch vor;
die Besprechung erweist sich zuallererst als autobiographischer LektĂŒrebericht:
[I]ch erinnere mich, wie es war, als ich Der Kutscher und der Wappenmaler las, und
wie es gewesen ist, als ich das Buch zu Ende las: am frĂŒhen Morgen im Stockfinstern
aufgewacht, fing ich nach einiger Zeit zu lesen an. Dann war es hell, und die Geschichte
vom Kutscher August Kandel, fĂŒr den der geheimnisvolle Wappenmaler hinter ihm
in der Kutsche das andere Leben bedeutete, war aus. Eine tiefgelbe Wintermorgen-
sonne im Zimmer; die BesÀnftigung; nichts vergessen, dachte ich.63
61 Ebd., S.Â
83 f. Ăber Handkes WĂŒrdigung zeigte sich Lenz erfreut, wie sich aus Handkes Antwort-
brief erschlieĂen lĂ€sst. Vgl. Handke an Lenz, 30. 12. 1973. In: Handke/Lenz: Berichterstatter des
Tages (Anm. 35), S. 35: âLieber Hermann Lenz, auch mich hat es gefreut, den Aufsatz in der
âSĂŒddeutschen Zeitungâ zu lesen, sehr, und Ihre Meinung und Beschreibung dazu hat mich
richtig glĂŒcklich gemacht, ich habe Ihren Brief öfter gelesen und lese ihn immer noch.â
62 Handke: Vorbemerkung (Anm.Â
39), S.Â
8. In einem ersten Entwurf der einleitenden Ăberlegun-
gen, der ausdrĂŒcklich â(Keine Ăberschrift!)â vorsieht, war noch von âflinken Begriffenâ die
Rede, was Handke dann durch âbeliebig verfĂŒgbaren Begriffenâ ersetzt. Siehe dazu das Faksimile
der Korrekturen in: âWas ich schreibe, ist ja nur meine geformte Existenzâ. Peter Handke. Eine
Ausstellung ĂŒber Leben und Werk des Schriftstellers. Stift Griffen 1997. Klagenfurt: Kultur-
initiative Stift Griffen 1998, S. 50.
63 Handke: Jemand anderer: Hermann Lenz (Anm.Â
43), S.Â
84 f. In der Folge schildert Handke auch
ein GesprĂ€ch mit Lenz, in dem er diesem von der LektĂŒre seiner Werke berichtet habe: âIch
erzĂ€hlte, wenn ich sehr lange in einem seiner BĂŒcher gelesen hĂ€tte, kĂ€me mir gegen Ende darin
auf einmal alles selbstverstĂ€ndlich vor, unumstöĂlich, aber ungezwungen, völlig ruhig, aber
Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 233
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471