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Beispielgebend fĂŒr spĂ€tere Reflexionen ĂŒber das Lesen, zumal fĂŒr die zahlrei-
chen Notate zu diesem Themenkomplex in den JournalbÀnden, entwirft Handke
hier die Idee einer LektĂŒre, die die Bedeutung eines Buches fĂŒr den Leser, Autor
und Kritiker nicht mittels eines streng analytisch-distanzierten Verfahrens zu
ermitteln versucht, sondern ganz wesentlich auf die Vermittlung und Beschrei-
bung eines subjektiven Leseerlebnisses setzt. Ausgehend von dieser grundsÀtz-
lichen Ăberzeugung fand Handke, wie Manfred Mixner anschaulich gezeigt
hat, zu âeinem eigenstĂ€ndigen essayistisch-literarischen Verfahrenâ, das âganz
und gar nicht den Normen literaturwissenschaftlicher [und literaturkritischer]
Praxisâ entsprach.64 Varianten dieses Verfahrens, die er in Reflexionen ĂŒber
das Genre der Kritik wie in eigenen Arbeiten ĂŒber Literatur erkundet, finden
sich etwa in den frĂŒhen Essays zu Thomas Bernhards Verstörung (1967) und
Gert Jonkes Geometrischem Heimatroman (1969). Das Gravitationszentrum
der Beschreibung bildet dabei das âEreignis des Lesensâ;65 als Leitbild einer
solchen Praxis hatte Handke im Disput mit Peter Hamm bereits 1969 die Idee
einer âandere[n], vielleicht den Leser freier lassende[n] Möglichkeit der Kri-
tikâ 66 in Aussicht gestellt.
Noch 2005 hat Peter Handke, im GesprÀch mit dem österreichischen Jour-
nalisten Heinz Sichrovsky, eine der emphatischen LektĂŒre verpflichtete Litera-
turkritik gefordert:
Das Schönste an Rezensionen ist, wenn man das Lesen spĂŒrt. Nicht das Auseinander-
klauben, das Loben, das Tadeln, sondern das Lesen. Nur dann hat ein Rezensent einen
Sinn. Auch, wenn er zornig ist. Dann spĂŒrt man den zornigen Leser. Aber den Leser
muss man spĂŒren, nicht den Rezensenten.67
Die âExpedition des Lesensâ,68 von der Handke in Mein Jahr in der Niemands-
bucht (1994) schreibt, ist fĂŒr ihn keine, die auf exakte Instrumente und Karten
vertrauen kann. Ebenso wie das Schreiben, das Handke an zahlreichen Stellen
noch mild von der ĂŒberstandenen Unruhe â und da lĂ€se ich nicht mehr, sondern empfĂ€nde
einfach nur GlĂŒck. âDas ist es!â sagte Lenz ĂŒberrascht und doch selbstbewuĂt.â (Ebd., S. 98 f.)
64 Mixner: Peter Handke (Anm. 10), S. 208.
65 Lothar Struck: Der Begleitschreiber. Einige Bemerkungen zum Kritiker und Leser Peter Handke.
In: L. S.: ErzÀhler, Leser, TrÀumer. Begleitschreiben zum Werk von Peter Handke. Mit einem
Vorwort v. Klaus Kastberger. [Klipphausen]: Mirabilis 2017, S. 13 â 27, hier S. 22.
66 Peter Handke ĂŒber Peter Handke. In: konkret, Nr. 13, 16. 6. 1969, S. 51; auch in: Ăber Peter
Handke. Hg. v. Michael Scharang. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 314 â 319.
67 Heinz Sichrovsky: âIch bin ein konservativer Menschâ. GesprĂ€ch mit Peter Handke. In: News,
Nr. 39, 29. 9. 2005, S. 144 â 148, hier S. 146.
68 Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein MĂ€rchen aus der neuen Zeit. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp 1994, S. 185.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik234
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471