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der Kritik, das Handke dazu verhalf, von der Vermittlung von Daten und Fak-
ten in einem Wertungszusammenhang wegzukommen, und an dessen Stelle das
Kritisierte in einen Erfahrungszusammenhang zu stellen.â 87 Entsprechend hat
Handke 1995 in einer weiteren Laudatio, anlÀsslich der Verleihung des Nicolas-
Born-Preises an Arnold Stadler, bemerkt, es sei âvielen Kritiken zu entnehmen,
daĂ der Rezensent das Wissen ĂŒber den Autor nicht mehr aus dem Lesen bezieht,
sondern aus Daten, aus dem Lexikon.â 88
Anhand der bereits zitierten ErzÀhlung Langsame Heimkehr und ihres
Prota gonisten Valentin Sorger lÀsst sich exemplarisch zeigen, wie stark das
skizzierte Problem auch in Handkes literarische Texte hineinwirkt, speist sich
die Skepsis des Geologen Sorger gegenĂŒber den âBeschreibungsmethodenâ
seiner Wissenschaft doch ganz wesentlich aus dem Umstand, dass sie es, wie
zuletzt Ulrich von BĂŒlow gezeigt hat, nicht ermöglichen, âdie eigenen Erfah-
rungenâ des Forschers auszudrĂŒcken.89 WĂ€hrend Sorgers Interesse der âMög-
lichkeit eines ganz verschiedenen Darstellungsschemas der ZeitverlÀufe in den
Landschaftsformenâ gilt (und er sich deshalb selbstbewusst in eine Genealogie
der âUmdenkerâ einschreibt),90 sind Handkes Ambitionen auf eine alternative
Form der emphatischen Beschreibung von Literatur gerichtet. Wie die TĂ€tig-
keit des Geologen, der âvon seiner Wissenschaftâ âĂŒberzeugtâ ist, âweil sie ihm
half, zu fĂŒhlen, wo er jeweils warâ,91 zeichnet sich auch das literaturkritische
Schreiben Handkes, das im Folgenden genauer in den Blick genommen wird,
ganz wesentlich durch eine selbstreflexive, auf das eigene Dasein gerichtete
Suchbewegung aus.92
87 Mixner: Peter Handke (Anm. 10), S. 176. Dazu auch Karl Wagner: Handkes âDer Roman des
Lesensâ. In: Texttreue. Komparatistische Studien zu einem masslosen Massstab. Hg. v. JĂŒrg
Berthold u. Boris PreviĆĄiÄ. Bern u. a.: Lang 2008, S.Â
173 â 181, hier S.Â
179: âEs war ihm auch wich-
tig, seine Rolle als Gelegenheitsrezensent in frĂŒhen Jahren von den Gattungserwartungen an
eine Buchbesprechung fernzuhalten und sieÂ
â zumindest nachtrĂ€glichÂ
â als Geschichte zu prĂ€-
sentieren, mit geradezu primitiv-epischem SignalementÂ
[âŠ].â Dies hat Handke auch hĂ€mische
Kommentare eingetragen, etwa 1993 in einem Bericht der SĂŒddeutschen Zeitung anlĂ€sslich der
Verleihung der EhrendoktorwĂŒrde der UniversitĂ€t EichstĂ€tt: âHandke liest seine Kollegen so,
wie wir BlĂŒmelein auf dem Felde beobachten oder die Vögel am Himmel.â (J. B.: Der poetische
Gelehrte. In: SĂŒddeutsche Zeitung, 10. 5. 1993)
88 Peter Handke: Eine gewaltige Sehnsucht. Zu Arnold Stadler. [1995] In: P. H.: MĂŒndliches und
Schriftliches (Anm. 47), S. 82 â 91, hier S. 83.
89 Ulrich von BĂŒlow: Spinoza-LektĂŒren. In: Das stehende Jetzt (Anm.Â
81), S.Â
125 â 147, hier S.Â
140.
90 Handke: Langsame Heimkehr (Anm. 80), S. 18.
91 Ebd., S. 12.
92 Siehe dazu etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die Selbstbestimmung Handkes in einem 2000
anlĂ€sslich des Todes von H. C. Artmann gefĂŒhrten Interviews: âEr war der perfekte Artist als
Poet. Aber meine Position als Poet, wenn ich ĂŒberhaupt eine habe, ist nicht die des Artisten,
sondern die des Forschers. Des StĂŒmpers. Des landwirtschaftlichen Dichters.â (Heinz Sichrovsky:
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik238
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471