Page - 245 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Image of the Page - 245 -
Text of the Page - 245 -
âJede Geschichte von Thomas Bernhard seiâ, zitiert Handke im Vorwort zum
Band Der gewöhnliche Schrecken (1969) eine eigene ĂuĂerung, âeine Schreckens-
geschichte, eine Horror-Geschichte, die aber den Schrecken nicht zu etwas Beson-
derem, etwas literarisch GenieĂbarem verniedliche, sondern von ihm als von etwas
Gewöhnlichem, AlltĂ€glichem rede.â 119 Handkes Respekt vor dem Nicht-GenieĂ-
baren von Bernhards Poetik â er sollte spĂ€ter in das genaue Gegenteil und den
Vorwurf allzu groĂer Bekömmlichkeit umschlagen 120 â grĂŒndet hier ganz wesent-
lich auf der WertschÀtzung eines literarischen Verfahrens: Als Resultat der von
Handke beschriebenen literarischen Konstruktionsleistung entstehen Texte, die
dem Leser eine neue Form der ErschlieĂung der Welt ermöglichen, wobei, mit
John Cages berĂŒhmter Lecture on nothing gesprochen, die Struktur des Sprechens
und Schreibens nicht nur intellektuell erfassbar, sondern auch emotional erlebbar
wird: âSie haben soebenâ, heiĂt es in Ernst Jandls Cage-Ăbersetzung, âdie Struktur
dieses Vortrags erlebt.â 121
Erneut korrespondiert hier Handkes literarische Ambition mit den Kriterien
seines literaturkritischen Schreibens, wie ein Beispiel aus unmittelbarer zeit-
licher NĂ€he verdeutlichen soll: Wenn er in einer poetologischen Skizze zum
Roman Der Hausierer, der wie Bernhards Verstörung 1967 erschien, angibt,
er habe die âschemata des schreckensâ im Kriminalroman âwieder erlebbarâ
machen wollen,122 sind die Parallelen zwischen Handkes Anspruch an seine
eigenen Arbeiten und seinen Forderungen an die Texte anderer evident: Hier
wie dort geht es nicht nur darum, erzÀhlerische Automatismen und literarische
Klischees als âdarstellungsschema[ta]â zu entlarven, sondern auch darum, die
âerlebnisschema[ta]â 123 bei der LektĂŒre zu subvertieren, zu unterlaufen und
damit sichtbar zu machen.
119 Peter Handke: [Vorwort]. In: Der gewöhnliche Schrecken. Horrorgeschichten. Hg. v. P. H. Salz-
burg: Residenz 1969, S. [5]. Das Buch enthÀlt u. a. Bernhards ErzÀhlung Midland in Stilfs, die
1971 im gleichnamigen ErzÀhlband erneut abgedruckt wurde, zudem Texte von Peter Bichsel,
Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker und zahlreichen weiteren Autorinnen und Autoren.
120 Vgl. etwa Peter Handke: Aber ich lebe nur von den ZwischenrĂ€umen. Ein GesprĂ€ch, gefĂŒhrt
von Herbert Gamper. ZĂŒrich: Ammann 1987, S. 93: âIch möchte jetzt nicht gegen Thomas
Bernhard herziehen, aber wenn man liest, wie er seine Suggestionssuade herstellt: da ist ĂŒber-
haupt kein Problem mehr von ErzÀhlen, kein Problem des Gegenstands mehr, vor allem kein
Problem eines Ăbergangs mehr â weder zwischen den RĂ€umen, zwischen einem Raum und
dem anderen, noch zwischen den Zeiten, noch zwischen PersonenÂ
â, weil alles ein rhetorischer
Fertigbau ist.â
121 John Cage: Silence. Aus dem Amerikanischen v. Ernst Jandl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987,
S. 12.
122 Peter Handke: Ăber meinen neuen Roman Der Hausierer. In: Dichten und Trachten 29 (1967),
S. 27 â 29, hier S. 28.
123 Ebd. (Herv. im Orig.).
Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 245
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471