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Vorhaben, âdas Lesen, wie auch immer, weiterzugebenâ.134 In diesem Sinne hat
Handke auch in einer Rede auf seinen langjÀhrigen Freund Alfred Kolleritsch
1978 den Enthusiasmus der Kunstbetrachtung und die kritische, analytische,
aufmerksame WĂŒrdigung nicht als GegensĂ€tze, sondern nachgerade als einan-
der bedingende Aspekte beschrieben, wobei der Laudator den Ausgezeichneten
direkt anspricht: âDie Begeisterung ĂŒber deine Gedichte schlieĂt nicht die Ana-
lyse aus, macht vielmehr erst die Lust zu derselben.â 135
Ende der 1960er Jahre war Handke gewillt, diese Haltung der Kunstrezeption
und Kunstvermittlung auch in einer eigenen publizistischen Unternehmung zu
erprobenÂ
â einem Zeitschriftenprojekt, dessen Realisierung am Ende allerdings
scheitern sollte. Die Dokumente, die aus der Zeit der Konzeption vorliegen, bie-
ten gleichwohl einen aufschlussreichen Einblick in Handkes Ăberlegungen zur
Neuinterpretation der Gattung âLiteratur- und Filmkritikâ. Anfang 1969 disku-
tierte Siegfried Unseld â nicht zuletzt, weil sich die Trennung des Enzensber-
gerâschen Kursbuchs vom Suhrkamp Verlag abzeichnete 136Â â mit verschiedenen
Autoren Möglichkeiten eines neuen Periodikums. Am 20. Januar lieà Handke
dem Verleger, basierend auf einem GesprĂ€ch mit JĂŒrgen Becker, Peter Bichsel,
Max Frisch und Martin Walser, einige âVorschlĂ€geâ fĂŒr das âProjekt der Zeit-
schriftâ 137 zukommen. Frisch, der seit den Erfolgen von Stiller (1954), Homo faber
(1957) oder Andorra (1961) zu den prominentesten Autoren des Verlags gehörte
und auf dessen EinschĂ€tzungen Unseld groĂen Wert legte, hat die Stimmung
dieses GesprÀchs in einer kurzen Notiz festgehalten, in der er Handkes Habitus
dieser Zeit â ânicht provokant, nur abseitsâ â prĂ€gnant beschreibt:
Peter Handke. Er schweigt wie ein Prinz. Wie er unterdessen einen grossen Eisbecher
auslöffelt, kindlich. Ohne Arroganz, wenn er sagt: Das langweilt mich. (Uebrigens
langweilt es mich auch; PlĂ€ne fĂŒr eine Zeitschrift.) Seine dunkle Sonnenbrille. Wenn es
die Runde nicht ĂŒberzeugt, was er einmal sagt, lĂ€sst erâs schlĂ€frig. Klug wie der junge
134 Handke: Drei Zitterer an der homerischen Quelle (Anm. 69), S. 166.
135 Peter Handke: Der tiefe Atem (Rede zur Petrarca-Preis-Verleihung ĂŒber den Gedichtband Ein-
ĂŒbung in das Vermeidbare). [1978] In: P. H.: Das Ende des Flanierens (Anm.Â
48), S.Â
137 â 144, hier
S.Â
137. Dem gemeinsamen Verleger Wolfgang Schaffler hatte Handke die Entscheidung der Jury,
den Petrarca-Preis an Kolleritsch zu vergeben, ebenso emphatisch mitgeteilt: âDie Gedichte
von Kolleritsch waren fĂŒr uns alle, nachdem wir alles andere schon mit GriesgrĂ€migkeit und
MĂŒdigkeit hatten passieren lassen, ein Ereignis, und wir waren fast selig danach. Das hat die
Poesie gemacht.â (Peter Handke an Wolfgang Schaffler, 5. 4. 1978. In: SĂŒddeutsche Zeitung,
5. 7. 2003)
136 Vgl. Henning Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Berlin: Matthes &
Seitz 2011, S. 199 â 217.
137 Handke an Unseld, 20. 1. 1969. In: Handke/Unseld: Der Briefwechsel (Anm.Â
1), S.Â
102. Zur Liste
der GesprÀchsteilnehmer vgl. auch Unseld an Handke, 9. 1. 1969. In: ebd., S. 101.
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik248
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471