Page - 252 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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von Beatmusik unterstĂŒtzten Lesungen einen Namen gemacht hatte, erkannte
oder ob sie den jungen Autor nur aufgrund seines Aussehens mit der britischen
Band assoziierte, geht aus Handkes Text allerdings nicht hervor. Er ist aufgrund
seiner pointierten, gegen schriftstellerisches âEngagementâ im herkömmlichen
Sinn argumentierenden Interpretation von John Lennons Revolution nicht nur
eine erneute Provokation gegen die politisch-Ă€sthetischen Dogmen der 68er-
Bewegung,154 sondern er stellt auch einen weiteren Versuch Handkes dar, das
Schreiben ĂŒber kulturelle Artefakte neu zu konzipieren. Die Spannung zwischen
Beschreibung und Analyse ist dafĂŒr, wie schon in anderen FĂ€llen, von konsti-
tutiver Bedeutung.
Wenn Handke in seinem Beatles-Text, der manche Aspekte der frĂŒheren
Radiofeuilletons Der Rausch durch die Beatles (1964) und Von der Schwierigkeit,
einen Schlagertext zu schreiben (1965) aufgreift,155 davon schreibt, man mĂŒsse auf
âdie ĂbergĂ€nge zwischen den einzelnen Songsâ achten,156 so wird erneut Folgen-
des deutlich: Die konkrete Wahrnehmungssituation des Rezensenten spielt fĂŒr
Handkes kritisches Schreiben eine zentrale Rolle. Dabei ist die Schilderung des
individuellen, subjektiven Kunst- bzw. Hörerlebnisses stets eine Aufforderung,
ein Angebot an die Leserinnen und Leser der Rezension, ihre eigenen Erfah-
rungen mit dem jeweiligen Àsthetischen Artefakt, sei es ein Buch, ein Film oder
ein MusikstĂŒck, zu machen (und diese womöglich selbst mit anderen zu teilen,
um ein umfassendes GesprĂ€ch ĂŒber Kunst und ihre Bedeutung zu initiieren bzw.
154 Vgl. ebd. die Passage: âVor allem wegen des Songs âRevolutionâ, den John Lennon geschrieben
hat, sind die Beatles von den RevolutionÀren, die bis dahin auf die Songs der Beatles hörten,
geschmĂ€ht worden. In âRevolutionâ wird den RevolutionĂ€ren geraten, erst einmal sich selber
zu Ă€ndern.âÂ
â Vgl. dazu schon Handkes Bemerkung im Rundfunkfeuilleton Von der Schwierig-
keit, einen Schlagertext zu schreiben (1965): âDie Beatles lehnen soziales oder rassisches oder
kulturkritisches Engagement ab. Ihre Lieder sind ganz ohne AttitĂŒde, ohne vorbedachten Welt-
bezug, ohne Gemeinschaftsfanatismus wie etwa die Songs der amerikanischen Folksinger, die
sich betont anti geben. Die Songs der Beatles sind gesellschaftlich durch ihre Wirkung, durch
die Fröhlichkeit und die Melancholie, die sie in andern erzeugen. [âŠ] Paul McCartney, der
gemeinsam mit John Lennon bei den Beatles die Lieder schreibt, antwortet auf die Frage, was
er von den amerikanischen Protestsongs halte, er kenne keine Protestsongs, er kenne nur gute
und schlechte Songs.â (Peter Handke: Von der Schwierigkeit, einen Schlagertext zu schreiben.
[1965] In: protokolle (1973), H. 2, S. 182 â 186, hier S. 185)
155 Vgl. Peter Handke: Der Rausch durch die Beatles. [1964] In: Ver sacrum. Neue Hefte fĂŒr Kunst
und Literatur 5 (1974), S. 114 â 117 (hier die wohl falsche Jahresangabe â1965â); Handke: Von
der Schwierigkeit, einen Schlagertext zu schreiben (Anm. 154), S. 184 â 186; Der Rausch durch
die Beatles war 1964 das erste âFunkfeuilletonâ fĂŒr das Radio Steiermark; âdas Themaâ hatte
sich Handke, so Holzinger: Peter Handkes literarische AnfĂ€nge in Graz (Anm.Â
3), S.Â
17, âselbst
gewĂ€hltâ, âdas Manuskript geriet zu einer emotional gefĂ€rbten Verteidigungâ der von ihm
verehrten Band. Zum Feuilleton Von der Schwierigkeit, einen Schlagertext zu schreiben vgl. die
Bemerkungen ebd., S. 18.
156 Handke: John Lennon sagte (Anm. 151).
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik252
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471