Page - 256 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Image of the Page - 256 -
Text of the Page - 256 -
der Idee einer ideologiefreien Aufmerksamkeit fĂŒr die Schönheit theatralischer
wie filmischer VorgÀnge aus, die der Autor als Kritiker auch den Leserinnen
und Lesern seiner BeitrĂ€ge empfiehltÂ
â sei es durch die Schilderung der eigenen
Rezeptionshaltung oder durch die Denunziation der âblindenâ und âdumpfenâ
Anderen. Mit der Fokussierung zunÀchst bedeutungslos erscheinender Details
der jeweiligen kĂŒnstlerischen Artefakte erweisen sich Handkes AusfĂŒhrungen
nicht zuletzt auch als pointierte EinsÀtze in der Auseinandersetzung des Autors
mit dem âhandelsĂŒblichen Realismusâ:171
Jemand ruft an, er hat falsch gewĂ€hlt: In jedem anderen StĂŒck hĂ€tte das eine Bedeutung,
vielleicht etwas Metaphysisches, in Bauers StĂŒck aber ist das möglich, es ist selbst-
verstĂ€ndlich, es hat keine Bedeutung ĂŒber sich hinaus, es ist fĂŒr sich allein spannend.
Das zu bemerken, kann im Theater aufregend sein.172
Handkes Rezensionen haben in vielen FÀllen den Charakter eines prÀzisen Erfah-
rungsreports, suspendieren aber trotzdem nicht die Vorstellung, im Zuge der
Schilderung des eigenen subjektiven Erlebens von Theater, Musik und Literatur
auch AnsÀtze zu einer analytischen Kommentierung zu formulieren. Gleich-
wohl ist eine ausgeprĂ€gte âScheu vor den kulturkritischen Theorie-Ritualenâ,
die der Autor sich selbst im Vorwort zu Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms
attestiert hat,173 den Rezensionen Handkes bis heute abzulesen. Immer wieder
hat er, wie 1973 in einer Besprechung von Edward Bonds Komödie Der See, die
Gefahr, durch MĂŒdigkeit und NachlĂ€ssigkeit âin die Formeln der Theaterkritikâ
zu verfallen, explizit thematisiert,174 hat seine eigene Praxis des Rezensierens als
Abweichung von den etablierten âKritikerstandardsâ definiert.175
Wie sehr indes das Vorbild Helmut FĂ€rbers Handkes literaturkritisches Schrei-
ben beeinflusste und ihn dazu anregte, seine Prinzipien der Kritik neu zu kalibrie-
ren, lĂ€sst sich anhand der am 21.Â
April 1969 im Spiegel veröffentlichten Rezension
von Gert Jonkes Geometrischem Heimatroman, der im selben Jahr im Suhrkamp
Verlag erschienen war,176 nachvollziehen: âĂber John Fords Film Lost Patrol schrieb
171 Handke: Zu Wolfgang Bauer, Magic Afternoon (Anm. 159), S. 196 f.
172 Ebd., S. 197.
173 Handke: Vorbemerkung (Anm. 39), S. 7.
174 Peter Handke: Bonds pauschaler Schmerz. In: Der Spiegel, Nr. 50, 10. 12. 1973, S. 131 â 134, hier
S.Â
134: âWalter Schmidinger in MĂŒnchen âdagegenâ (ja, es ist gegen zwei Uhr in der Nacht, und
allmÀhlich gerate ich in die Formeln der Theaterkritik) war als Hatch mehr der Theatertyp des
Ăbergeschnappten, der gerade durch das bewuĂte, virtuos hintereinandergesetzte Vorzeigen
aller Einzelheiten an einem ĂŒblichen Ăbergeschnappten ein Theatertyp blieb.â
175 Lorenz: Pro domo (Anm. 7), S. 399.
176 Hamm: Der neueste Fall von deutscher Innerlichkeit (Anm. 170), S. 44, warf Handke im Juni
1969 vor, âfĂŒr das Buch eines Freundes Propaganda [zu] mach[en], das er selbst zum Suhrkamp
Peter Handkes Gegenmodelle zur zeitgenössischen
Literaturkritik256
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471