Page - 257 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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ein Kritiker, sehr gute Filme könne man nur beschreibenâ, zitiert Handke gleich
im ersten Satz seiner Buchbesprechung den von ihm bewunderten FĂ€rber.177 Im
Abstand eines Vierteljahrhunderts hat er, in der Laudatio zum Petrarca-Preis,
FĂ€rbers Sentenz ĂŒber John Ford erneut als âfundamental[es]â Beispiel fĂŒr dessen
Konzept von Kritik referiert: ââNur bei einem sehr guten Film hat man Lust, zu
beschreiben. Beschreiben ist etwas ganz anderes als NacherzĂ€hlen. Und fĂŒr Leser,
die finden, hier sei ĂŒber einen Film dies und jenes gesagt, aber nicht recht, was
er insgesamt ist: Ein schöner Film, den man nicht nur von auĂen ansehen kann,
man kann in ihm herumgehen!ââ 178
An Jonkes Geometrischem Heimatroman, der heute in der Geschichte osten-
tativer Ăberschreitungen der Romanform neben Friedrich Achleitners quadrat-
roman (1973), Andreas Okopenkos Lexikon-Roman (1970) und Oswald Wieners
die verbesserung von mitteleuropa (1969) einen festen Platz innehat, lobt Handke,
dass es dem Autor gelungen sei, die traditionelle Struktur eines literarischen
Textes nicht nur intellektuell versteh-, sondern auch erfahr- und erlebbar zu
machen: âMit diesem Buch kann man also Erfahrungen machen. Erfahrungen
zu machen, bereitet VergnĂŒgen: Es ist ein vergnĂŒgliches Buch. Kein neuer Film
von Godard, kein neuer Film von Straub im KinoÂ
â man könnte wieder zu lesen
anfangen.â 179 Jonkes Roman biete die âChanceâ, so betont der Rezensent, ânicht
nur beim Lesen, sondern auch am Lesen VergnĂŒgen zu habenâ;180 spĂ€ter setzt
Handke die Erfahrung bei der LektĂŒre des Buches mit einem Bild aus Gustave
Flauberts ErzĂ€hlung Herodias in Beziehung â einem Bild, das bei ihm seit der
1965 publizierten Halbschlafgeschichte 181 und bis hinein ins SpÀtwerk als positi-
ver Bezugspunkt literarischen Schreibens auftaucht: âEs könnte einem mit dem
Buch ergehen, wie es in einer der Drei ErzÀhlungen Flauberts dem Tyrannen
ergeht, der nach den MĂŒhen und Plagen des Tages vor dem Palast verstockt auf
Verlag brachteâ. Im Briefwechsel zwischen Handke und Unseld finden sich jedoch keine Hin-
weise auf eine Vermittlung; im RĂŒckblick hat Handke im GesprĂ€ch mit Hamm 2002 Jonke
zu jenen Autoren gerechnet, mit denen in frĂŒhen Jahren im Umkreis der Grazer Zeitschrift
manuskripte und des Forum Stadtpark âeine Art Freundschaftâ entstanden sei (Peter Handke/
Peter Hamm: Es leben die Illusionen. GesprÀche in Chaville und anderswo. Göttingen: Wallstein
22008, S. 143). Anfang 2009 notiert Handke schlieĂlich anlĂ€sslich des Todes von Jonke: ââZu
SĂ€tzen aufgetĂŒrmte Sinnlosigkeiten?â â âNur SĂ€tze? Ăberraschend gesprenkelt mit Sinnâ (zum
Tod von Gert Jonke)â (Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und AnflĂŒge
von der Peripherie. 2007 â 2015. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2016, S. 51).
177 Handke: In SÀtzen steckt Obrigkeit (Anm. 106), S. 186.
178 Handke: Wie ein Letzter ein Erster (Anm. 125), S. 49.
179 Handke: In SÀtzen steckt Obrigkeit (Anm. 106), S. 188.
180 Ebd.
181 Vgl. Peter Handke: Halbschlafgeschichte (Entwurf zu einem Bildungsroman). In: manuskripte
(1965), H. 14/15, S. 35 â 36.
âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 257
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471