Page - 276 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Enkelbub, Niclas van Heerlenâ, hebt der âVorspruchâ der Sammlung an und
nimmt dabei jenes Pseudonym vorweg, das Bernhard spÀter unter seinen ersten
journalistischen Beitrag Vor eines Dichters Grab setzen wird,
im stillen KĂ€mmerlein
Schreibâ ich in Reimen dir, arm und holprig, grob und fein,
So wie es in die Feder lÀuft und ohne viel Bedenken,
Will ich dir vÀterlich hier Rat auf Ratschlag schenken.11
Einzelne Texte der Sammlung werde ich noch genauer in den Blick nehmen, da
die konservative, gegen Massen- und Unterhaltungskultur anschreibende Kritik,
die in diesen Versen zum Ausdruck kommt â âDrum rat ich dir, mein Sohn,
wendâ dich dem schönen Buche zu, / Hier findest du das wahre GlĂŒck, die selige
Ruhââ 12Â â, in den folgenden Jahren einen wichtigen Bezugspunkt fĂŒr Bernhards
literaturkritische Reflexionen bilden sollte.
Thomas Bernhard hat den Beginn seines Schreibens wiederholt mit der ZĂ€sur
des Todes von Johannes Freumbichler, nur zwei Tage nach seinem 18.Â
Geburts-
tag, in Verbindung gebracht. Ein knappes halbes Jahr danach, im Juli 1949,
wurde Bernhard in die Lungenheilanstalt Grafenhof (St. Veit/Pongau) einge-
wiesen und flĂŒchtete sich dort, wie er in Die KĂ€lte. Eine Isolation (1981) festhĂ€lt,
aus seiner schwierigen gesundheitlichen und familiÀren Lage mehr und mehr
âins Schreibenâ: â[I]ch schrieb und schrieb, ich weiĂ nicht mehr, Hunderte,
Aberhunderte Gedichte, ich existierte nur, wenn ich schriebâ; als Katalysator
der ProduktivitĂ€t nennt das autobiographische Ich im RĂŒckblick den Tod des
geliebten GroĂvaters, dem bei aller Tragik auch ein Moment der Befreiung
inhĂ€rent gewesen sei: â[M]ein GroĂvater, der Dichter, war tot, jetzt durfte ich
schreiben, jetzt hatte ich die Möglichkeit, selbst zu dichten, jetzt getraute ich
mich, jetzt hatte ich dieses Mittel zum Zweck, in das ich mich mit allen meinen
KrĂ€ften hineinstĂŒrzteâ (TBW 10, 331).13 Im letzten ausfĂŒhrlichen Interview, das
Bernhard der Journalistin Asta Scheib 1987 gegeben hat, weist er noch einmal
auf diesen Zusammenhang hin: âMein GroĂvater war Schriftsteller. Erst nach
seinem Tode habe ich mich getraut, selber zu schreiben.â (TBW 22.2, 335)14
11 Freumbichler: Erziehung zu Vernunft und Fröhlichkeit (Anm. 10), S. 12.
12 Ebd., S. 38.
13 Vgl. dazu die Deutung in Manfred Mittermayer: Die Stimme des alten Meisters. Zur Figur des
GroĂvaters im literarischen Werk Thomas Bernhards. In: Ăsterreich und andere Katastrophen.
Thomas Bernhard in memoriam. BeitrÀge des Internationalen Kolloquiums an der UniversitÀt
des Saarlandes vom 10. bis 12.Â
Juni 1999. Hg. v. Pierre BĂ©har u. Jeanne Benay. St.Â
Ingbert: Röhrig
2001, S. 25 â 45, hier S. 30 f.
14 Michael Billenkamp: Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis. Heidelberg:
Winter 2008, S. 68, hat die Rolle Freumbichlers als Vorbild fĂŒr das Schreiben seines Enkels
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker276
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471