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Das Narrativ von der Befreiung der eigenen ProduktivitÀt durch das Ableben
des Vorbildes bzw. des Vorfahren gehorcht, ebenso wie andere ErzÀhlsequenzen
in Bernhards autobiographischen Arbeiten, einem vielfach erprobten literarischen
Muster.15 Erst jĂŒngst hat Friedrich Christian Delius in der ErzĂ€hlung Die Zukunft
der Schönheit (2018) mit Blick auf seinen Vater eine ganz Àhnliche Konstellation
entworfen: Nach dessen Tod habe er, so Delius, rasch die vÀter liche Schreibma-
schine âerobertâ und in der Folge âden Triumph ausgekostet, eine ganz andere
Buchstabenmelodie darauf zu spielen als er und auf ihren Tasten mein GlĂŒck zu
suchenâ.16 Steht Deliusâ Schilderung auch in einem anderen histo
rischen Kon-
text, weil der 2011 mit dem Georg-BĂŒchner-Preis ausgezeichnete Autor in Die
Zukunft der Schönheit vor allem die Abnabelung seiner Generation von der Welt
der VÀter in den 1960er Jahren versinnbildlicht, gehorcht sie doch einem Àhn-
lichen Strukturprinzip wie Bernhards autobiographische ErzĂ€hlung: âMit dem
GerÀusch des Hackens und Hauens und Tippens jedes einzelnen Buchstabens
signalisierte ich der Familie: Jetzt schreibe ich, jetzt fĂŒhre ich das Wort, jetzt
bin ich der StĂ€rkere.â 17 Was bei Delius und in der Kulturtheorie Harold Blooms
als anmaĂende âUmschrift des Vatersâ 18 firmiert, ist in Bernhards autobiogra-
phischem Narrativ um eine Generation nach hinten verschoben. Hier wie dort
kreist die ErzÀhlung um das Recht zu schreiben, um das Selbstbewusstsein zum
eigenen kĂŒnstlerischen Ausdruck, das erst mit dem Tod des Vorfahren zur Ent-
faltung kommen kann.
Die prekÀre Gleichzeitigkeit von Befreiung und tiefer Trauer, die in der
Auto biographie einprÀgsam beschrieben wird, hat Bernhard auch in fiktionalen
Texten wiederholt verarbeitet: Noch der Musikphilosoph Reger in Alte Meis-
ter (1985) wird vom Tod seiner Frau sagen, dieser sei nicht nur sein âgröĂtes
UnglĂŒckâ gewesen, sondern habe ihn auch âbefreitâ: âMit dem Tod meiner
Frau bin ich frei geworden, sagte er, und wenn ich sage frei, so meine ich
gÀnzlich frei, zur GÀnze frei, vollkommen frei, wenn Sie wissen oder wenigs-
tens ahnen, was das heiĂt. [âŠ] Der Tod des geliebten Menschen ist ja auch
die ungeheuere Befreiung unseres ganzen Systemsâ (TBW 8, 186). Die Figur
des GroĂvaters wird dem schreibenden Enkel zeitlebens, im Guten wie im
zudem auf gattungstheoretische Aspekte bezogen: âBernhards anfĂ€ngliche Verehrung von
Freumbichlers Werk erklĂ€rt, dass er sich zunĂ€chst mittels Lyrik und kĂŒrzeren ErzĂ€hlungen zu
profilieren sucht. LĂ€ngeren ProsastĂŒcken und Romanen, die er zu Beginn seiner Karriere noch
ausspart, weil er sich am Werk seines GroĂvaters nicht messen lassen will, wendet er sich erst
zu, als er sich von Freumbichlers Einfluss emanzipiert hat.â
15 Vgl. dazu grundlegend Reinhard Tschapke: Hölle und zurĂŒck. Das Initiationsthema in den
Jugenderinnerungen Thomas Bernhards. Hildesheim u. a.: Olms 1984.
16 Friedrich Christian Delius: Die Zukunft der Schönheit. ErzĂ€hlung. Berlin: Rowohlt 2018, S.Â
56.
17 Ebd.
18 Harold Bloom: Eine Topographie des Fehllesens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 29.
Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 277
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471