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in den Wiener Bücherbriefen nicht als historisch korrekte Darstellung zu ver-
stehen ist, sondern dass sich darin „die biografische Wahrheit mit fiktiven
Elementen“ vermischt: Bernhard betreibe, so Judex, „eine geschickte Montage
realer biografischer und fiktiv-literarischer Elemente“, „indem er Faktisches
poetisch verdichtet und auflädt, frei Erfundenem wiederum den Anschein von
Wirklichkeit verleiht“ 38 – ein Darstellungsverfahren, das Bernhard später in
seiner autobiographischen Pentalogie sowie in Texten wie Wittgensteins Neffe
(1982) perfektioniert hat.
1968 für einen Zeitschriftenbeitrag dazu aufgefordert, über die Landschaft
seiner Kindheit zu schreiben, widmete Bernhard lange Passagen des Unsterb-
lichkeit ist unmöglich betitelten Essays dem Andenken seines Großvaters, der ihn
in „Naturwissenschaft“, „Geisteswissenschaften“ und „Philosophie“ gleicherma-
ßen eingeführt habe (TBW 22.1, 604).39 In Die Kälte (1981) und Ein Kind (1982)
schließlich wird er Freumbichler nicht nur als wichtigste Vertrauensperson seiner
Kindheit und Adoleszenz würdigen, sondern auch als „erfolglose[n]“ und „ver-
kannte[n] Schriftsteller“ (TBW 10, 350) beschreiben, der für ihn in mancherlei
Hinsicht ein abschreckendes Beispiel dargestellt habe:40 Die „Erfahrung des mit-
erlebten Scheiterns des eigenen familiären Schreibvorfahren“ hat Bernhard, so
Hans Höller, mit Sicherheit stark geprägt;41 seine Äußerungen über Leben und
Werk des Großvaters weisen im Laufe der Zeit zusehends Züge einer Reflexion
über das eigene Konzept von Autorschaft auf
– dem Schicksal seines Großvaters,
nach jahrzehntelangem, selbstzerstörerischem Ringen mit der „Romanarbeit“ im
Grunde „völlig unbekannt“ aus dem Leben zu scheiden (TBW 10, 426 u. 468),
wollte der Enkel unter allen Umständen entgehen. Als er im Juli 1950 in seinem
ersten Beitrag als Kulturjournalist den verwahrlosten Zustand der Grabstätte
am Maxglaner Friedhof beklagte, stand Bernhard freilich noch ganz am Beginn
seiner literarischen Karriere.
38 Judex: Die Persiflage des Geistesmenschen (Anm. 21), S. 196 f.
39 Bernhard Judex: Das „größte politische Dilemma der Geschichte“. Krieg und Nationalsozia-
lismus bei Thomas Bernhard. In: Text + Kritik (42016), H. 43, S. 153 – 165, hier S. 156, zufolge
handelt es sich bei Unsterblichkeit ist unmöglich um einen „im Unterschied zur Autobiografie
noch weniger auf ein ästhetisch-poetologisches Konzept hin entworfenen stenogrammartigen
Text[ ]“. Mittermayer: Die Stimme des alten Meisters (Anm. 13), S. 27, hat indes auf die „stark
ausgeprägte Stilisierungstendenz“ auch in diesem frühen autobiographischen Text hingewiesen.
40 Bereits Tschapke: Hölle und zurück (Anm.
15), S.
74, hat auf „ambivalente Züge“ in Bernhards
Freumbichler-Bild aufmerksam gemacht. Noch ausführlicher hat diese intrikate Vermengung
von „Vaterfigur“ und „Familientyrann“ Judex: Die Persiflage des Geistesmenschen (Anm. 21),
S. 190, herausgearbeitet.
41 Hans Höller: „Gewalt auch über ganz Große“. Thomas Bernhards Überwindung der ‚Einfluss-
angst‘. In: Thomas Bernhard Jahrbuch 2005/2006, S. 65 – 74, hier S. 68.
Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 283
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471