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Das zeigt sich etwa im mit Sorgfalt ĂŒberschriebenen Kurzprosatext, an dessen
Ende der Delinquent nicht einer psychiatrischen Behandlung ĂŒberantwortet,
sondern, so hat es jedenfalls den Anschein, in die Freiheit entlassen wird:
Ein des Mordes an einer schwangeren Frau angeklagter Postbeamter hat vor Gericht
angegeben, er wisse nicht, warum er die Schwangere umgebracht habe, er habe sein
Opfer aber so sorgfÀltig als nur möglich umgebracht. Auf alle Fragen des Gerichtsvor-
sitzenden hatte er immer nur das Wort sorgfÀltig gesagt, worauf das Verfahren gegen
ihn eingestellt worden ist. (TBW 14, 340)
Der bekannteste Rekurs auf seine Zeit als Gerichtsreporter im Stimmenimitator
ist freilich der Text Exempel, in dem die entsprechende TĂ€tigkeit als fordernde
Schule des Lebens beschrieben wird: âDer Gerichtssaalberichterstatter ist dem
menschlichen Elend und seiner AbsurditÀt am nÀchsten und er kann diese Erfah-
rung naturgemÀà nur eine kurze Zeit, aber sicher nicht lebenslÀnglich machen,
ohne verrĂŒckt zu werden.â 53 Weil ihm im Gericht jeden Tag âdas Unglaubliche,
ja das Unglaublichsteâ begegne, sei er, so heiĂt es vom ErzĂ€hler, ânaturgemĂ€Ă
bald von ĂŒberhaupt nichts mehr ĂŒberraschtâ.54 Der Text hat vor allem deshalb
Beachtung gefunden, weil die Tochter des darin namentlich genannten âOber-
landesgerichtsrat[s] Zamponiâ nach der Veröffentlichung des Buches mit einer
Klage gedroht hatte.55 Sie sah darin das Andenken ihres Vaters Reinulf Zamponi
beschĂ€digt, von dem in Bernhards KurzprosastĂŒck zu lesen ist, er habe nach der
Verurteilung eines Erpressers âzu zwölf Jahren Kerker und zur Zahlung von
acht Millionen Schillingâ plötzlich eine Pistole hervorgeholt und nicht etwa den
StraftÀter, sondern sich selbst in den Kopf geschossen.56 TatsÀchlich war Reinulf
Gerichtsreport und journalistischer Meldung, was zum einen auf Bernhards kalkuliertes Spiel
mit dem protokollarischen Stil benannter Formen hinweist und zum anderen die bewusste
Erprobung unterschiedlicher Stimmen zur Erzeugung einer scheinbaren AuthentizitÀt des
Faktischen belegt.â
53 Thomas Bernhard: Der Stimmenimitator. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 29.
54 Ebd.
55 Vgl. dazu und zum Folgenden: Sehr geschĂ€tzte Redaktion. Leserbriefe von und ĂŒber Thomas
Bernhard. Hg. v. Jens Dittmar. Wien: Edition S 1991, S.Â
86 â 89; Mittermayer: Thomas Bernhard
[2015] (Anm.Â
25), S.Â
93 f.; Moritz: Das Milieu der Gerichtsberichte hat ihn beeinflusst (Anm.Â
46),
S. 47; sowie den Kommentar in TBW 22.1, 857 f.
56 Bernhard: Der Stimmenimitator (Anm.Â
53), S.Â
29 f. Der Name von âStaatsanwalt Dr. Zamponiâ
findet sich gleich in mehreren anonym erschienenen Gerichtssaalberichten, fĂŒr die Bernhards
Autorschaft angenommen wird (vgl. TBW 22.1, 435, 448 u. 495). Jens Dittmar hat darauf hin-
gewiesen, dass Reinulf Zamponi selbst BeitrĂ€ge fĂŒr das Demokratische Volksblatt verfasst hat
(vgl. Dittmar: Zwischen Paris-Lodron-StraĂe und Kajetaner Platz [Anm. 47], S. 16). Auch im
Romanprojekt âSchwarzach St.Â
Veitâ, einer Vorstufe von Frost, taucht der Name Zamponi auf.
Vgl. dazu Martin Huber: Von Schwarzach St.Â
Veit nach Weng. Zur Vorgeschichte von Thomas
âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 287
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471