Page - 300 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Image of the Page - 300 -
Text of the Page - 300 -
einen veritablen Verriss, der so harsch ausfÀllt, dass er auf die Nennung des nur
unter Vorbehalt als âDichterâ apostrophierten Autors verzichtet.98 Aus den Zei-
len spricht freilich weniger die HĂ€me des Polemikers als vielmehr Mitleid mit
dem Gast des verunglĂŒckten Abends:
In einem Hörsaal der theologischen FakultÀt stellte die Salzburger Volkshochschule
Mittwoch abends wieder einen âDichterâ vor. Wir wollen ĂŒber die gelesenen Verse
und ĂŒber die vorgetragene Prosa den Mantel des Verzeihens breiten, denn auch die
BemĂŒhung ist ihre Anerkennung wert. Man muĂ aber feststellen, daĂ, wenn die
Volkshochschule diesen Weg weitergeht und um jeden Preis Dichter entdecken will,
bald niemand mehr in Salzburg ihre âDichterlesungenâ besuchen wird. Eine gesunde
und strenge Auswahl der Lesenden wÀre vonnöten. So, wie es jetzt geschieht, tut man
mehr gegen als fĂŒr die Literatur. (TBW 22.1, 350)
Die hier als Veranstalter genannte Salzburger Volkshochschule, die ab 1953 auch
eine Reihe unter dem Titel âJunge Dichter lesenâ anbot (vgl. TBW 22.1, 121), spielte
Anfang der 1950er Jahre eine wichtige Rolle fĂŒr Bernhards literarische Sozialisa-
tion und den Aufbau eines Netzwerkes. Hier knĂŒpfte er Kontakte zu anderen jun-
gen Autorinnen und Autoren, die wie er nach ersten Publikationsmöglichkeiten
suchten und am Austausch mit Gleichgesinnten interessiert waren: âBernhard
lernte ich Anfang bis Mitte der fĂŒnfziger Jahre auf der Salzburger Volkshoch-
schule kennenâ, erinnert sich der ebenfalls 1931 geborene Johann Barth: âDa hat
Professor Adalbert Schmidt VortrĂ€ge ĂŒber moderne Gegenwartsliteratur gehal-
ten. Da sind sich Erwin Gimmelsberger, der die Rauriser Literaturtage begrĂŒndet
hat, Thomas Bernhard und ich begegnet.â 99 Deutlich geschickter als sein zeit-
lebens im Literaturbetrieb isolierter GroĂvater beteiligte Bernhard sich aktiv am
kulturellen Geschehen der Stadt Salzburg und war mit vielen Autorinnen und
Autoren, ĂŒber die er im Demokratischen Volksblatt berichtete, auch persönlich
98 Bei dem Autor handelte es sich, so der Kommentar der Werkausgabe, um den Salzburger Lyri-
ker Emil Lerperger, dessen Band Begnadete Nacht 1954 erschien. Vgl. TBW 22.1, 776.
99 Johann Barth: Er war sich seines Sieges schon gewiss. In: Was reden die Leute (Anm. 46),
S.Â
140 â 144, hier S.Â
141. Diente die Volkshochschule einerseits jungen Autorinnen und Autoren
als Ort, an dem sie zum ersten Mal an die literarische Ăffentlichkeit treten konnten, stand der
Name Adalbert Schmidt zugleich fĂŒr die stillschweigend tolerierten KontinuitĂ€ten zwischen
Drittem Reich und Zweiter Republik. Er war Mitglied der NSDAP und der Reichsschrifttums-
kammer sowie Herausgeber der Anthologie Ostmark-Lyrik (1939) gewesen, nach 1945 hatten
seine Arbeiten auf der âListe der gesperrten Autoren und BĂŒcherâ gestanden. 1949 bis 1954
(also in den Jahren, in denen Bernhard ihn kennenlernte) war Schmidt Lektor fĂŒr Phonetik
und Sprecherziehung sowie Mitarbeiter beim Salzburger Volksblatt, schlieĂlich von 1966 bis
1976 Professor fĂŒr österreichische Literaturgeschichte an der UniversitĂ€t Salzburg. Vgl. dazu
Karl MĂŒller: Adalbert Schmidt. In: Internationales Germanistenlexikon. 1800 â 1950. Hg. v.
Christoph König. Bd. 3: RâZ. Berlin, New York: de Gruyter 2003, S. 1616 â 1618.
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker300
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471