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einen veritablen Verriss, der so harsch ausfällt, dass er auf die Nennung des nur
unter Vorbehalt als „Dichter“ apostrophierten Autors verzichtet.98 Aus den Zei-
len spricht freilich weniger die Häme des Polemikers als vielmehr Mitleid mit
dem Gast des verunglückten Abends:
In einem Hörsaal der theologischen Fakultät stellte die Salzburger Volkshochschule
Mittwoch abends wieder einen „Dichter“ vor. Wir wollen über die gelesenen Verse
und über die vorgetragene Prosa den Mantel des Verzeihens breiten, denn auch die
Bemühung ist ihre Anerkennung wert. Man muß aber feststellen, daß, wenn die
Volkshochschule diesen Weg weitergeht und um jeden Preis Dichter entdecken will,
bald niemand mehr in Salzburg ihre „Dichterlesungen“ besuchen wird. Eine gesunde
und strenge Auswahl der Lesenden wäre vonnöten. So, wie es jetzt geschieht, tut man
mehr gegen als für die Literatur. (TBW 22.1, 350)
Die hier als Veranstalter genannte Salzburger Volkshochschule, die ab 1953 auch
eine Reihe unter dem Titel „Junge Dichter lesen“ anbot (vgl. TBW 22.1, 121), spielte
Anfang der 1950er Jahre eine wichtige Rolle für Bernhards literarische Sozialisa-
tion und den Aufbau eines Netzwerkes. Hier knüpfte er Kontakte zu anderen jun-
gen Autorinnen und Autoren, die wie er nach ersten Publikationsmöglichkeiten
suchten und am Austausch mit Gleichgesinnten interessiert waren: „Bernhard
lernte ich Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre auf der Salzburger Volkshoch-
schule kennen“, erinnert sich der ebenfalls 1931 geborene Johann Barth: „Da hat
Professor Adalbert Schmidt Vorträge über moderne Gegenwartsliteratur gehal-
ten. Da sind sich Erwin Gimmelsberger, der die Rauriser Literaturtage begründet
hat, Thomas Bernhard und ich begegnet.“ 99 Deutlich geschickter als sein zeit-
lebens im Literaturbetrieb isolierter Großvater beteiligte Bernhard sich aktiv am
kulturellen Geschehen der Stadt Salzburg und war mit vielen Autorinnen und
Autoren, über die er im Demokratischen Volksblatt berichtete, auch persönlich
98 Bei dem Autor handelte es sich, so der Kommentar der Werkausgabe, um den Salzburger Lyri-
ker Emil Lerperger, dessen Band Begnadete Nacht 1954 erschien. Vgl. TBW 22.1, 776.
99 Johann Barth: Er war sich seines Sieges schon gewiss. In: Was reden die Leute (Anm. 46),
S.
140 – 144, hier S.
141. Diente die Volkshochschule einerseits jungen Autorinnen und Autoren
als Ort, an dem sie zum ersten Mal an die literarische Öffentlichkeit treten konnten, stand der
Name Adalbert Schmidt zugleich für die stillschweigend tolerierten Kontinuitäten zwischen
Drittem Reich und Zweiter Republik. Er war Mitglied der NSDAP und der Reichsschrifttums-
kammer sowie Herausgeber der Anthologie Ostmark-Lyrik (1939) gewesen, nach 1945 hatten
seine Arbeiten auf der „Liste der gesperrten Autoren und Bücher“ gestanden. 1949 bis 1954
(also in den Jahren, in denen Bernhard ihn kennenlernte) war Schmidt Lektor für Phonetik
und Sprecherziehung sowie Mitarbeiter beim Salzburger Volksblatt, schließlich von 1966 bis
1976 Professor für österreichische Literaturgeschichte an der Universität Salzburg. Vgl. dazu
Karl Müller: Adalbert Schmidt. In: Internationales Germanistenlexikon. 1800 – 1950. Hg. v.
Christoph König. Bd. 3: R–Z. Berlin, New York: de Gruyter 2003, S. 1616 – 1618.
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker300
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471