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Thomas Wolfe begeistert. Im Sinne jenes emphatischen Künstlerideals, das auch
seinen 1954 im Salzburger Hotel Pitter gehaltenen Vortrag über Arthur Rimbaud
prägt,116 charakterisiert er Wolfe als „unaufhörlich Anklagende[n], Suchende[n],
Verbitterte[n], nach Wahrheit Ringende[n] ohne Ausweg“ (TBW 22.1, 93).
Thomas Wolfe sollte für Bernhard zeitlebens ein wichtiger Autor bleiben. In
der 1957 unter dem Titel Ein Wort an junge Schriftsteller veröffentlichten – und
wohl im Kontext der Innsbrucker Jugendkulturwochen entstandenen 117 – Pole-
mik gegen seine Altersgenossen erwies er ihm gemeinsam mit Dylan Thomas
und Walt Whitman als Verfasser „neuer, gewaltiger Poesien“ seine Reverenz und
stellte ihn den feigen, auf „Krankenversicherungen und Stipendien, Preise und
Förderungsprämien“ schielenden Autoren seiner Generation gegenüber (TBW
22.1, 566). Noch Mitte der 1970er Jahre nannte er Wolfe im Gespräch mit Peter
Hamm als ersten Autor, der ihn „wirklich fasziniert“ habe; Schau heimwärts, Engel!
sei ein Buch gewesen, „wo ich mir gedacht hab’, das ist so großartig, und der, der
das schreibt, ist so ungeheuer vital und jung und gescheit“ (TBW 22.2, 104).118
Bereits im ersten Bericht über Wolfes Roman im Rahmen der Lesung im
„Amerikahaus“ entwirft Bernhard ein Bild bedingungsloser Autorschaft ohne
Konzessionen an einen literarischen ‚Betrieb‘, das Ideal einer künstlerischen
Existenz, die aller Unbill des Lebens trotzt, der alle finanziellen und morali-
schen Rücksichten fremd sind und die nur sich selbst und der Kunst Rechen-
schaft abzulegen bereit ist.119 Ein ums andere Mal beschreibt er in den folgenden
Jahren den Künstler als einen mit der Welt „Ringenden“ (TBW 22.1, 414): Die
Zeichnungen Oskar Kokoschkas charakterisiert er im Sommer 1956 in der Wie-
ner Furche in diesem Sinne als „abgründig und leidenschaftlich“, „ungehemmt
geben sie Zeugnis von den Fieberträumen und Finsternissen der Menschen.
Jedes Blatt ist ein Stück Leben, das nach einem Stück Brot verlangt.“ (TBW 22.1,
418) Den hungrig durch die Straßen streunenden, von der Gesellschaft ausge-
stoßenen Künstler setzt er ein Jahr darauf im Wort an junge Schriftsteller (1957)
den schwächlichen „pragmatisierten Dichtern“ und „pragmatisierten Lyrikern“
als Ideal entgegen (TBW 22.1, 567), um sich im gleichen Atemzug selbst in eine
Reihe mit Charles Baudelaire, Charles Péguy, Paul Verlaine und Walt Whitman
116 Vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag: Journalistisches, Reden, Interviews. In: Bernhard-
Handbuch (Anm. 84), S. 270 – 278, hier S. 270 f.
117 Vgl. Mittermayer: Thomas Bernhard [2015] (Anm. 25), S. 102 f.
118 Vgl. noch das 1980 im Spiegel gedruckte Gespräch mit Hellmuth Karasek und Erich Böhme:
„Ich liebe Wittgenstein und Thomas Wolfe, das sind Sachen, die mich über Jahrzehnte brüder-
lich begleiten, die liebe ich innigst bis ans Lebensende und über den Tod hinaus, wie das so
schön heißt.“ (TBW 22.2, 174 f.)
119 Zu Bernhards „Künstler-Reflexionen“ in den journalistischen Arbeiten vgl. Janner: Der Tod
im Text (Anm.
9), S.
117 f.
– Höller: Thomas Bernhard (Anm.
76), S.
48, hat diese nicht zuletzt
mit dem Vorbild seines Großvaters Johannes Freumbichler in Verbindung gebracht.
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker304
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471