Page - 306 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Wenn Hakel dem jungen Autor Thomas Bernhard attestiert, sich in seinen
Gedichten âweinheberischâ gebĂ€rdet zu haben, dann verweist diese beilĂ€ufige
Notiz aber auch auf einen Zusammenhang jenseits von Bernhards eigener schrift-
stellerischer Entwicklung. Der Wiener Lyriker Josef Weinheber, geboren 1892,
hatte Mitte der 1930er Jahre mit GedichtbÀnden wie Adel und Untergang (1934)
und Wien wörtlich (1935) Anerkennung im österreichischen literarischen Feld
gefunden, engagierte sich allerdings schon frĂŒh in der nationalsozialistischen
Bewegung. 1938 war Weinheber einer der prominentesten BeitrÀger des Bekennt-
nisbuchs österreichischer Dichter, mit dem die âfĂŒhrenden nationalen Dich-
ter Ăsterreichsâ, so das Vorwort des Wiener Schriftstellers und Verlegers Max
Stebich, den âAnschlussâ Ăsterreichs an das Deutsche Reich feierten: âĂster-
reich / ist durch die Tat des FĂŒhrers und Reichskanzlers / Adolf Hitler / heim-
gekehrt in das Deutsche Reich. / Die nationalen Dichter der Ostmark / neigen
sichÂ
/ freudig bewegt vor dieser Vollendung.â 124 Weinhebers im Bekenntnisbuch
ab- und in vielen NS-Anthologien nachgedruckter Hymnus auf die Heimkehr
endet mit einer begeisterten Anrufung Adolf Hitlers: âDeutschland, ewig und
groĂ, / Deutschland, wir grĂŒĂen dich! / FĂŒhrer, heilig und stark, / FĂŒhrer, wir
grĂŒĂen dich! / Heimat, glĂŒcklich und frei, / Heimat, wir grĂŒĂen dich!â 125 Im
Dritten Reich stand Weinheber auf der âGottbegnadeten-Listeâ der wichtigsten
und bevorzugt zu behandelnden Kulturschaffenden.126 Gegen Ende des Zweiten
Weltkriegs, am 8.Â
April 1945, nahm er sich angesichts der heranrĂŒckenden Roten
Armee im niederösterreichischen KirchstÀtten das Leben.
In der Folge entwickelten sich heftige Diskussionen ĂŒber die Rolle Weinhebers
im Nationalsozialismus und ĂŒber die Frage, wie nun mit seinem literarischen
Erbe umzugehen sei. In den Jahren 1947 und 1948 wurde in der katholisch-kon-
servativen Zeitschrift Der Turm und ihrem progressiven, betont anti-nazistischen
Pendant, dem von Otto Basil herausgegebenen PLAN, intensiv um die Deu-
tung Weinhebers gerungen. Die âBruchlinien der unmittelbaren Nachkriegszeitâ
kamen dabei, so Daniela Strigl, nur zu deutlich zum Vorschein.127 Als 1950 ein
124 Max Stebich: [Vorwort]. In: Bekenntnisbuch österreichischer Dichter (Anm. 32), S. 7 â 8, hier
S. 7 f.
125 Josef Weinheber: Hymnus auf die Heimkehr. In: ebd., S. 113 â 116, hier S. 116. Nachgedruckt
u. a. in: Ostmark-Lyrik. Gesammelt u. hg. v. Adalbert Schmidt. Wien, Leipzig: Adolf Luser
1939, S. 83 â 86; Heimkehr ins Reich. GroĂdeutsche Dichtung aus Ostmark und Sudetenland.
1866 â 1938. Hg. v. Heinz Kindermann. Leipzig: Reclam 1939, S. 325 â 327.
126 Zu seiner Rolle im NS-Kulturbetrieb vgl. Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich (Anm.Â
32),
S. 588.
127 Strigl: Spurensicherung (Anm.Â
33), S.Â
68. Vgl. ebd.: âJosef Weinheber galt einerseits als die Sym-
bolfigur der politisch Gestrauchelten, andererseits als der Ăbervater der österreichischen Lyrik,
in seiner Kunst auch anerkannt von den meisten seiner politischen Kritiker.â Unmittelbar nach
dem Zweiten Weltkrieg setzten sich prominente Schriftsteller â darunter mit Franz Theodor
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker306
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471