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Goetz’ Hokuspokus (1953) muss er aber abschließend doch konstatieren: „Nach
gemäßem Abstand über Hokuspokus nachzudenken, ist nicht ratsam.“ (TBW 22.1,
271) Bernhards Reserviertheit gegenüber dem Medium war nicht zuletzt auf die
Qualität der von ihm rezipierten Streifen zurückzuführen, der sich die „Tages-
schreiberei“ des Salzburger Journalisten mitunter anpasst.162
Nur selten hat sich Bernhard einem Film etwas ausführlicher gewidmet;
William Wylers Carrie (1953) sticht dabei besonders hervor: „Einer der besten
Filme der letzten Jahre, vielleicht des letzten Jahrzehnts überhaupt, hat jetzt
den Weg zu uns gefunden“, schreibt er am 16. September 1953 über die US-
amerikanische Produktion. Carrie schildere „die Geschichte eines großen
Menschenschicksals“, das „fern von allem Klischee“ jeden „wahren Menschen
erschüttern“ müsse (TBW 22.1, 248). Die beiden Schauspieler Laurence Oliver
und Jennifer Jones hebt Bernhards besonders lobend hervor, ihre „Darstel-
lung“ werde künftig „einmalig in der Filmgeschichte dastehen“. Es handle
sich, so das Fazit, um ein „Meisterwerk“, einen „Film, der von jedem besucht
werden soll, dem das Leben, so wie es ist, wertvoll erscheint …“ (TBW 22.1,
248). Der rhetorische Überschwang verrät freilich ebenso wie seine negati-
ven Filmkritiken, dass Bernhard zu diesem Zeitpunkt kein ausdifferenziertes
Sensorium für filmische Ästhetik aufwies. Noch stärker als andere Textsorten
für das Demokratische Volksblatt erwecken seine Kinokritiken den Eindruck
„journalistischer Dutzendware“.163
Thomas Bernhards Veröffentlichungen im Demokratischen Volksblatt vom
28. November 1953 indes verweisen erneut auf das Erbe des Nationalsozialis-
mus im Kulturbetrieb dieser Jahre, auf die oft stillschweigende Akzeptanz der
Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und Zweiter Republik. Er besprach an diesem
Tag den im Stadtkino gezeigten „Veit-Harlan-Film“ Das unsterbliche Herz, von
dem er zwar angibt, er sei schon „alt“, dessen konkretes Erscheinungsjahr 1939
er jedoch verschweigt (TBW 22.1, 319). Harlan hatte sich im Dritten Reich mit
Propagandafilmen wie dem antisemitischen Machwerk Jud Süß (1940) hervor-
getan und zählte bis zuletzt „zu den politisch verläßlichsten Regisseuren des
NS-Regimes“.164 Im Abstand von 14
Jahren konnte Bernhard dem Unsterblichen
Herzen dessen ungeachtet „nur Bewunderung entgegenbringen“ (TBW 22.1, 319).
Im April 1951 hatte die Aufführung von Veit Harlans aktuellem Film Unsterbliche
162 Michael Töteberg: Höhenflüge im Flachgau. Drei Anläufe, dreimal abgestürzt: die Vorgeschichte
des Autors Thomas Bernhard. In: Text + Kritik (31991), H. 43, S. 3 – 10, hier S. 4.
163 Höller: Thomas Bernhard (Anm.
76), S.
51. Klug: Thomas Bernhards Arbeiten (Anm.
28), S.
149,
führt die vielerorts zu beobachtenden „sprachliche[n] Unebenheiten“ in Bernhards Texten auch
auf den „zeitlichen Druck journalistischer Tagesproduktion“ zurück.
164 Oliver Rathkolb: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich. Wien: ÖBV
1991, S. 224. Zu Veit Harlans Rolle im Nationalsozialismus vgl. ebd., S. 221 – 224; Klee: Das
Kultur lexikon zum Dritten Reich (Anm.
32), S.
196 f.; sowie den Kommentar in TBW 22.1, 769.
„Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 317
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471