Page - 324 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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im Demokratischen Volksblatt eine Lesung von Elisabeth Effenberger und Josef
Laßl, die, so der Rezensent, mit „liebenswürdig bemessen[em]“ Beifall geendet
habe (TBW 22.1, 150). Während die sich allmählich neu formierende Wiener
Literaturszene an radikalen künstlerischen Verfahren arbeitete und Anschluss
an die internationale Avantgarde suchte,186 attestierte er Effenberger, „frauliche“
Gedichte geschrieben zu haben, und gab ihr als Rat auf den Weg: „Dichten heißt
Arbeiten, nicht basteln!“ (TBW 22.1, 149) Davon, dass Laßl einige Jahre zuvor
noch als Redakteur des Völkischen Beobachters gearbeitet hatte,187 ist in Bernhards
Lesungsbericht nichts zu lesen. Er offenbart die ästhetische und ideologische
Indifferenz eines jungen Rezensenten, der erst in den folgenden Jahren Anschluss
an avanciertere Strömungen im österreichischen literarischen Feld finden sollte.
Bernhard fordert in mehreren Beiträgen für das Demokratische Volksblatt
zwar vehement Aufmerksamkeit für die Werke einer jungen Generation von
Autorinnen und Autoren (zu der er nicht zuletzt selbst gehört); er geht aber
zunächst, so Christian Klug, von einem „Handlungssystem“ aus, „in welchem
die Jungen sich um die Anerkennung der Alten bemühen, statt spezifisch neue
Wertmaßstäbe zu entwickeln“: „Nicht das Neue als bestimmte Negation des Alten
ist erwünscht, sondern der kontinuierliche, bruchlose, bewahrende Anschluß an
eine bestimmte Tradition.“ 188 Während der Prosa- und Theaterautor Bernhard
später „rebellische[ ] Söhne“ in den Fokus seiner Texte gerückt hat, „die gegen
die Tradition vorgehen und das Alte auflösen wollen“,189 kann sich der Journalist
zu Beginn zu solch radikalen Gesten noch nicht durchringen.
Immer wieder ist in seinen publizistischen Arbeiten der frühen 1950er Jahre
von der „große[n] Verantwortung gegenüber unseren großen Geistern der
Geschichte“ die Rede; erst der Anspruch, ihnen gerecht werden zu können, bilde
die Legitimation für die „künstlerisch Schaffenden des jungen Österreich“ (TBW
22.1, 143), so Bernhard im Aufsatz Die Kultur ist nicht stehen geblieben! vom April
Hamburg: Rowohlt 1967, S.
5 – 36, hier S.
9 f.; zur genaueren Datierung siehe Klaus Kastberger:
Acte und Akten. Konrad Bayer und die Archive der Avantgarde. In: Konrad Bayer: Texte, Bilder,
Sounds. Hg. v. Thomas Eder u. K. K. Wien: Zsolnay 2015, S. 15 – 33, hier S. 22.
186 Vgl. dazu etwa Klaus Kastberger: Wien 50/60. Eine Art einzige österreichische Avantgarde. In:
Schluß mit dem Abendland! Der lange Atem der österreichischen Avantgarde. Hg. v. Thomas
Eder u. K. K. Wien: Zsolnay 2000, S.
5 – 26; Daniela Strigl: Ihr Auftritt, bitte! Sprachingenieure
als Entertainer. In: verschiedene sätze treten auf. Die Wiener Gruppe in Aktion. Hg. v. Thomas
Eder u. Juliane Vogel. Wien: Zsolnay 2008, S.
9 – 28. Zu Bernhards Verhältnis zur Wiener Gruppe
vgl. Billenkamp: Thomas Bernhard (Anm. 14), S. 374 f.
187 Vgl. Schneider/Steinsiek: Mengenlehre (Anm. 101), S. 61.
188 Klug: Thomas Bernhards Arbeiten (Anm. 28), S. 150 f. Vgl. dazu auch Töteberg: Höhenflüge
im Flachgau (Anm. 162), S. 6: „Bernhards Zeitungsartikel erscheinen wie die Aufsätze eines
Musterschülers. Ein junger Mann, nicht aufmüpfig, sondern traditionsbewußt.“
189 Judex: Schreiben in der „Denkkammer“ (Anm. 6), S. 29.
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker324
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471