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dem unendlichen Reichtum der groĂen Vorbilder, die mit Namen aufzuzĂ€hlen
nicht notwendig erscheintâ. Allerdings bemerkt Bernhard auch, âdaĂ das in
der Tradition Verwurzelte, das Festgebundene, obwohl immer neu Reifende,
zugleich auch eine groĂe, nicht zu unterschĂ€tzende Gefahr fĂŒr den Autor, und
im ĂŒbertragenen Sinn, fĂŒr die gesamte Entwicklung in sich birgtâ (TBW 22.1,
133). Auf diese Einsicht, in der sich leise andeutet, was Bernhard 1970 im Film-
monolog Drei Tage als âununterbrochenes Zur-Wehr-Setzenâ (TBW 22.2, 63)
gegen Kanon und Tradition beschreiben wird, folgt nun jedoch wieder jene
stereotype Berichterstatterrhetorik, die in den Lesungskritiken allenthalben
festzustellen ist und die die zuvor angedeutete Problematik abschlieĂend woh-
lig einhegt: âRudolf Bayr als ErzĂ€hler zu hören, als besinnlich Heiteren und
mit dem Wesen des Kindhaften Vertrauten, ist durchaus vergnĂŒglich.Â
[âŠ] Das
Publikum dankte dem Autor herzlich fĂŒr seine Lese-Stunde.â (TBW 22.1, 133 f.)
WĂ€hrend Herbert Moritz in Bernhards Text ĂŒber Rudolf Bayr einen âwichtigen
AnstoĂ zum Diskurs ĂŒber Traditionalismus und Eklektizismusâ erkennt,196 bleibt
die Vorstellung einer hinderlichen, ja gefĂ€hrlichen Tradition doch âkonturlos,
ohne Konsequenz und als Warnung vollkommen abstraktâ. Er âerkennt in der
Traditionsgebundenheit nicht das grundsÀtzliche Problem der österreichischen
Literatur der Nachkriegszeitâ,197 sondern sieht darin nur ein individuelles Pro-
blem des Autors Bayr, dessen âintellektuelleâ Literatur sich eben zu stark am
âunendlichen Reichtum der groĂen Vorbilderâ orientiere (TBW 22.1, 133)Â
â ein
Kritikpunkt, den er ein halbes Jahr spÀter anlÀsslich einer Lesung von Alfons
CzibulkaÂ
â âallzu stark im Traditionellen verankertâ (TBW 22.1, 276)Â
â wieder-
holen sollte.
Erst allmÀhlich zeigen die im Demokratischen Volksblatt veröffentlichten Bei-
trÀge Bernhards eine ideologie- wie kulturgeschichtlich signifikante Entwicklung,
die â parallel zum eigenen literarischen Schreiben â vom Paradigma der Fort-
schreibung und Bewahrung im Kontext einer âkonservativen Neuerungsscheuâ 198
hin zur Idee eines Bruchs mit der Tradition, zur Ăberwindung des Bestehenden
fĂŒhrt. Sein âmĂŒhsamer, aber steter ProzeĂ der Emanzipation aus der geistigen
und kĂŒnstlerischen Engeâ 199 geht mit einer maĂgeblichen âWeiterentwicklungâ
âKulturredakteur beim Völkischen Beobachterâ gearbeitet hat.
196 Moritz: Lehrjahre (Anm. 44), S. 108.
197 Klug: Thomas Bernhards Arbeiten (Anm. 28), S. 146.
198 Holl: Literaturgeschichte Salzburgs (Anm. 92), S. 691.
199 Habringer: Der Auswegsucher (Anm. 26), S. 38. Dazu auch Holl: Literaturgeschichte Salz-
burgs (Anm. 92), S. 675: âSo wurde auch in Salzburg nicht der Grundstein fĂŒr Neues, fĂŒr die
Wiedererringung der Moderne gelegt, die im deutschen Sprachraum 12 bzw. 7 Jahre lang aus-
gesperrt gewesen war, sondern man wĂ€hlte die KontinuitĂ€t, das Vertraute, das AnknĂŒpfen an
die Regionalliteratur der dreiĂiger Jahre.â
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker326
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471