Seite - 326 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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dem unendlichen Reichtum der großen Vorbilder, die mit Namen aufzuzählen
nicht notwendig erscheint“. Allerdings bemerkt Bernhard auch, „daß das in
der Tradition Verwurzelte, das Festgebundene, obwohl immer neu Reifende,
zugleich auch eine große, nicht zu unterschätzende Gefahr für den Autor, und
im übertragenen Sinn, für die gesamte Entwicklung in sich birgt“ (TBW 22.1,
133). Auf diese Einsicht, in der sich leise andeutet, was Bernhard 1970 im Film-
monolog Drei Tage als „ununterbrochenes Zur-Wehr-Setzen“ (TBW 22.2, 63)
gegen Kanon und Tradition beschreiben wird, folgt nun jedoch wieder jene
stereotype Berichterstatterrhetorik, die in den Lesungskritiken allenthalben
festzustellen ist und die die zuvor angedeutete Problematik abschließend woh-
lig einhegt: „Rudolf Bayr als Erzähler zu hören, als besinnlich Heiteren und
mit dem Wesen des Kindhaften Vertrauten, ist durchaus vergnüglich.
[…] Das
Publikum dankte dem Autor herzlich für seine Lese-Stunde.“ (TBW 22.1, 133 f.)
Während Herbert Moritz in Bernhards Text über Rudolf Bayr einen „wichtigen
Anstoß zum Diskurs über Traditionalismus und Eklektizismus“ erkennt,196 bleibt
die Vorstellung einer hinderlichen, ja gefährlichen Tradition doch „konturlos,
ohne Konsequenz und als Warnung vollkommen abstrakt“. Er „erkennt in der
Traditionsgebundenheit nicht das grundsätzliche Problem der österreichischen
Literatur der Nachkriegszeit“,197 sondern sieht darin nur ein individuelles Pro-
blem des Autors Bayr, dessen „intellektuelle“ Literatur sich eben zu stark am
„unendlichen Reichtum der großen Vorbilder“ orientiere (TBW 22.1, 133)
– ein
Kritikpunkt, den er ein halbes Jahr später anlässlich einer Lesung von Alfons
Czibulka
– „allzu stark im Traditionellen verankert“ (TBW 22.1, 276)
– wieder-
holen sollte.
Erst allmählich zeigen die im Demokratischen Volksblatt veröffentlichten Bei-
träge Bernhards eine ideologie- wie kulturgeschichtlich signifikante Entwicklung,
die – parallel zum eigenen literarischen Schreiben – vom Paradigma der Fort-
schreibung und Bewahrung im Kontext einer „konservativen Neuerungsscheu“ 198
hin zur Idee eines Bruchs mit der Tradition, zur Überwindung des Bestehenden
führt. Sein „mühsamer, aber steter Prozeß der Emanzipation aus der geistigen
und künstlerischen Enge“ 199 geht mit einer maßgeblichen „Weiterentwicklung“
„Kulturredakteur beim Völkischen Beobachter“ gearbeitet hat.
196 Moritz: Lehrjahre (Anm. 44), S. 108.
197 Klug: Thomas Bernhards Arbeiten (Anm. 28), S. 146.
198 Holl: Literaturgeschichte Salzburgs (Anm. 92), S. 691.
199 Habringer: Der Auswegsucher (Anm. 26), S. 38. Dazu auch Holl: Literaturgeschichte Salz-
burgs (Anm. 92), S. 675: „So wurde auch in Salzburg nicht der Grundstein für Neues, für die
Wiedererringung der Moderne gelegt, die im deutschen Sprachraum 12 bzw. 7 Jahre lang aus-
gesperrt gewesen war, sondern man wählte die Kontinuität, das Vertraute, das Anknüpfen an
die Regionalliteratur der dreißiger Jahre.“
„Zeitungsg’schicht’ln“: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker326
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471