Page - 338 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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will, er habe etwas âfĂŒr Geldâ bzw. im Auftrag einer Redaktion geschrieben:
Das Rezensieren von BĂŒchern sei fĂŒr die Kritiker, so Bernhard in den von Kurt
Hofmann aufgezeichneten GesprĂ€chen, âein ganz primitives, lebenserhaltendes,
familienerhaltendes GâschĂ€ftâ.242 Nicht von ungefĂ€hr bediente er sich fĂŒr seine
publizistischen Interventionen mit Vorliebe der Gattung des Leserbriefs bzw. des
offenen Briefs, weil hier die Aktion ganz vom Schreibenden selbst ausgeht.243 In
öffentlichen ĂuĂerungen zur Gegenwartsliteratur beschrĂ€nkte Bernhard sich
meist auf abschÀtzige Kommentare und pauschale Diffamierungen.
Gleichwohl sind Spuren eines (literatur)kritischen Gestus in zahlreichen Wer-
ken des Autors zu entdecken: Schon die Protagonisten frĂŒher Prosatexte â etwa
in Das Verbrechen eines Innsbrucker Kaufmannssohns (1965)Â
â rĂŒhmen sich ihres
âScharfsinn[s]â, der âallesâ einer âin fast allen FĂ€llen tödlichen Kritikâ unterwirft
(TBW 14, 69), laborieren aber auch an dem Umstand, selbst âdauernd kritischer
Beobachtung ausgeliefertâ zu sein und zugleich âdauernd kritisch beobachtendâ
ihr Umfeld in den Blick zu nehmen (Zwei Erzieher, 1966; TBW 14, 12). Im Anfang
der 1980er Jahre verfassten, aber erst 1986 publizierten Opus magnum Auslöschung.
Ein Zerfall lÀsst Bernhard mit Franz-Josef Murau einen literaturaffinen Privat-
gelehrten auftreten, der seinem einzigen SchĂŒler Gambetti auf langen Spazier-
gÀngen durch Rom die deutschsprachige Literatur und Philosophie nÀherbringt:
Gleich zu Beginn erinnert er sich daran, Gambetti âfĂŒnf BĂŒcherâ ans Herz gelegt
zu haben, um diese âauf das aufmerksamste und mit der in seinem Fall gebotenen
Langsamkeit zu studierenâ: Neben Romanen von Jean Paul (SiebenkĂ€s), Franz
Kafka (Der ProzeĂ) und Hermann Broch (Esch oder Die Anarchie) trĂ€gt er ihm
Robert Musils Novelle Die Portugiesin zur LektĂŒre aufÂ
â und âAmras von Thomas
Bernhardâ (TBW 9, 7). Als fĂŒnftes Buch von Muraus Leseliste war im Typoskript
der Auslöschung anfangs noch Adalbert Stifters Witiko angefĂŒhrt; erst kurz vor der
Publikation tilgte Bernhard den Buchtitel mit schwarzem Filzstift 244 und ersetzte
ihn durch seine eigene, 1964 erschienene ErzÀhlung Amras, die er bei mehreren
Gelegenheiten als sein literarisch gelungenstes Werk bezeichnet hat.245
242 Hofmann: Aus GesprÀchen mit Thomas Bernhard (Anm. 42), S. 49.
243 Vgl. dazu Clemens Götze: âMit allen Anzeichen der Empörungâ. Thomas Bernhard als Leser-
briefschreiber. In: Text + Kritik (42016), H.Â
43, S.Â
52 â 65; Gschwandtner: Journalistisches, Reden,
Interviews (Anm. 116), S. 275 â 277.
244 Vgl. das Faksimile der Typoskript-Seite in TBW 9, 549; vgl. zur Korrektur der Textstelle auch
den Kommentar in TBW 9, 538 u. 544, sowie Markus Kreuzwieser: Epochendialoge. Noch
einmal: Adalbert Stifter und die Gegenwartsliteratur unter besonderer BerĂŒcksichtigung der
Stifter-LektĂŒre Thomas Bernhards. In: ide. Informationen zur Deutschdidaktik 29 (2005), H.Â
1,
S. 82 â 95, hier S. 93.
245 Vgl. TBW 22.2, 121 f.: âAm liebsten war mir immer Amras.Â
[âŠ] Da ist mir was gelungen, ohne
das ganz genau zu erfassen, dieser Schwebezustand zwischen NaivitÀt, PubertÀt und doch ganz
hohem Geistesniveau, dieses ganzen Zustands, nicht? Das ist wie eine Prosa-Seilbahn, wĂŒrde ich
âZeitungsgâschichtâlnâ: Thomas Bernhard als
Literaturkritiker338
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471