Page - 346 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
Image of the Page - 346 -
Text of the Page - 346 -
ein luxuriöser und kostspieliger, lebensgefÀhrlicher Wurstelprater, und die Regierung
ist eine ebenso teure Dummköpfelotterie. Wenn der Vorhang des Staates aufgeht, sehen
wir an jedem österreichischen Tag (und also auch am Nationalfeiertag) ein Lustspiel
fĂŒr Marionetten. (TBW 22.1, 618)
Wenn der Autor hier die politischen Akteure als âMarionettenâ und ihren
Wirkungsbereich als Theaterszenerie beschreibt (und damit nicht zuletzt den
Unernst des Geschehens betont), greift er zum einen den seit der Antike tra-
dierten und in der Literatur vielfach ausgestalteten Topos von der Welt als
BĂŒhne auf; in Shakespeares Versen aus der 1603 uraufgefĂŒhrten Komödie As
You Like It, âAll the worldâs a stage, / And all the men and women merely
playersâ, hat er wohl den berĂŒhmtesten Ausdruck gefunden.9 FĂŒr Bernhards
Poetik ist die Ineinssetzung von politisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit und
theatraler Inszenierung von zentraler Bedeutung; immer wieder hat er damit
operiert, VorgÀnge des öffentlichen Lebens, insbesondere der institutionellen
ReprĂ€sentation, als theatralische Handlungen zu beschreiben: âDie Welt istâ,
heiĂt es in Bernhards zweitem Roman Verstörung (1967), âtatsĂ€chlich eine
ProbebĂŒhne, auf der ununterbrochen geprobt wirdâ; die âMenschenâ seien, so
der FĂŒrst Saurau, ânichts als Schauspieler, die uns etwas vormachenâ (TBW 2,
146). âMein erster Theaterbesuchâ, erinnert sich das autobiographische Ich im
Band Ein Kind (1982) an die Zeit in Seekirchen Mitte der 1930er Jahre, âwar
mein erster Kirchenbesuchâ (TBW 10, 456 f.)Â
â auch in Bernhards Auseinander-
setzung mit Bruno Kreisky taucht der Topos einer theatralisch organisierten
Wirklichkeit noch weitere Male auf.10
Zum anderen aber spielt die pauschale Kritik an der politischen Praxis, an
ihren Institutionen und Akteuren aber auch anti-demokratischen Vorurteilen
und Einstellungen in die HĂ€ndeÂ
â ein Umstand, der Bernhard den Vorwurf einer
totalitĂ€ren Schreib- und Geisteshaltung eingebracht hat.11 Sind es in frĂŒheren
9 William Shakespeare: As You Like It / Wie es euch gefĂ€llt. Englisch / Deutsch. Ăbers. u. hg. v.
Herbert Geisen u. Dieter Wessels. Stuttgart: Reclam 1981, S. 74.
10 Vgl. dazu umfassend Tim Reuter: âVaterland, Unsinnâ. Thomas Bernhards (ent-)nationalisierte
GenieĂ€sthetik zwischen Ăsterreich-Gebundenheit und Ăsterreich-Entbundenheit. WĂŒrzburg:
Königshausen & Neumann 2013, S.Â
174 â 180. Vgl. dazu, um nur ein weiteres Beispiel unter vielen
zu nennen, die Schilderung der RĂŒckkehr Franz-Josef Muraus nach Wolfsegg in Auslöschung
(1986): âDas Theatralische des Vorgangs an der Orangerie war mir auf einmal deutlich gewor-
den, daà ich einem Theater zuschaue, in welchem GÀrtner mit KrÀnzen und Buketten agieren.
Die Hauptfigur in diesem Theater aber fehlt, habe ich gleichzeitig gedacht, und ebenso, das
eigentliche Schauspiel kann erst anfangen, wenn ich auftrete, sozusagen der Hauptdarsteller,
welcher aus Rom herbeigeeilt kommt fĂŒr dieses Trauerspiel.â (TBW 9, 250)
11 Schon Heinz F. Schafroth kritisierte 1977 Bernhards seiner Meinung nach sowohl Àsthetisch
als auch ideologisch bedenkliche âtotalitĂ€re Spracheâ (Heinz F. Schafroth: Die unmögliche und
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard346
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471