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ein luxuriöser und kostspieliger, lebensgefährlicher Wurstelprater, und die Regierung
ist eine ebenso teure Dummköpfelotterie. Wenn der Vorhang des Staates aufgeht, sehen
wir an jedem österreichischen Tag (und also auch am Nationalfeiertag) ein Lustspiel
für Marionetten. (TBW 22.1, 618)
Wenn der Autor hier die politischen Akteure als „Marionetten“ und ihren
Wirkungsbereich als Theaterszenerie beschreibt (und damit nicht zuletzt den
Unernst des Geschehens betont), greift er zum einen den seit der Antike tra-
dierten und in der Literatur vielfach ausgestalteten Topos von der Welt als
Bühne auf; in Shakespeares Versen aus der 1603 uraufgeführten Komödie As
You Like It, „All the world’s a stage, / And all the men and women merely
players“, hat er wohl den berühmtesten Ausdruck gefunden.9 Für Bernhards
Poetik ist die Ineinssetzung von politisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit und
theatraler Inszenierung von zentraler Bedeutung; immer wieder hat er damit
operiert, Vorgänge des öffentlichen Lebens, insbesondere der institutionellen
Repräsentation, als theatralische Handlungen zu beschreiben: „Die Welt ist“,
heißt es in Bernhards zweitem Roman Verstörung (1967), „tatsächlich eine
Probebühne, auf der ununterbrochen geprobt wird“; die „Menschen“ seien, so
der Fürst Saurau, „nichts als Schauspieler, die uns etwas vormachen“ (TBW 2,
146). „Mein erster Theaterbesuch“, erinnert sich das autobiographische Ich im
Band Ein Kind (1982) an die Zeit in Seekirchen Mitte der 1930er Jahre, „war
mein erster Kirchenbesuch“ (TBW 10, 456 f.)
– auch in Bernhards Auseinander-
setzung mit Bruno Kreisky taucht der Topos einer theatralisch organisierten
Wirklichkeit noch weitere Male auf.10
Zum anderen aber spielt die pauschale Kritik an der politischen Praxis, an
ihren Institutionen und Akteuren aber auch anti-demokratischen Vorurteilen
und Einstellungen in die Hände
– ein Umstand, der Bernhard den Vorwurf einer
totalitären Schreib- und Geisteshaltung eingebracht hat.11 Sind es in früheren
9 William Shakespeare: As You Like It / Wie es euch gefällt. Englisch / Deutsch. Übers. u. hg. v.
Herbert Geisen u. Dieter Wessels. Stuttgart: Reclam 1981, S. 74.
10 Vgl. dazu umfassend Tim Reuter: „Vaterland, Unsinn“. Thomas Bernhards (ent-)nationalisierte
Genieästhetik zwischen Österreich-Gebundenheit und Österreich-Entbundenheit. Würzburg:
Königshausen & Neumann 2013, S.
174 – 180. Vgl. dazu, um nur ein weiteres Beispiel unter vielen
zu nennen, die Schilderung der Rückkehr Franz-Josef Muraus nach Wolfsegg in Auslöschung
(1986): „Das Theatralische des Vorgangs an der Orangerie war mir auf einmal deutlich gewor-
den, daß ich einem Theater zuschaue, in welchem Gärtner mit Kränzen und Buketten agieren.
Die Hauptfigur in diesem Theater aber fehlt, habe ich gleichzeitig gedacht, und ebenso, das
eigentliche Schauspiel kann erst anfangen, wenn ich auftrete, sozusagen der Hauptdarsteller,
welcher aus Rom herbeigeeilt kommt für dieses Trauerspiel.“ (TBW 9, 250)
11 Schon Heinz F. Schafroth kritisierte 1977 Bernhards seiner Meinung nach sowohl ästhetisch
als auch ideologisch bedenkliche „totalitäre Sprache“ (Heinz F. Schafroth: Die unmögliche und
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard346
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471