Page - 353 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Rezeption ein enormes Provokations- und Irritationspotential entfaltet hat:
âIch schreibe prinzipiell nur Dinge, die ich selbst empfindeâ, wird Bernhard
im Oktober 1988 in einem seiner letzten öffentlichen Statements Ă€uĂern und
damit frĂŒhere Stellungnahmen konterkarieren: âDa ist alles autobiographisch.
Wer mich kennt, der weiĂ das auch.â 29
In Bernhards letztem, 1988 am Burgtheater uraufgefĂŒhrtem TheaterstĂŒck
Heldenplatz findet sich mit Robert Schusters elegisch-aggressivem âMonologâ30
schlieĂlich jene charakteristische Passage, in der â im Gestus bewusster Provo-
kationÂ
â gar eine Ununterscheidbarkeit nazistischer und sozialistischer Ideologie
postuliert wird:
dieser gröĂenwahnsinnige Republikanismus
und dieser gröĂenwahnsinnige Sozialismus
der mit Sozialismus schon seit einem halben Jahrhundert
nichts mehr zu tun hat
was die Sozialisten hier in Ăsterreich auffĂŒhren
ist ja nichts als verbrecherisch
aber die Sozialisten sind ja keine Sozialisten mehr
die Sozialisten heute sind im Grunde nichts anderes
als katholische Nationalsozialisten (TBW 20, 285 f.)
Als besonders hellsichtige Kommentierungen eines politischen Systems und
seiner historischen Filiationen können diese Zeilen, ebenso wie manche publi-
zistische Invention, die Bernhard unter eigenem Namen lanciert hat, kaum
gelten â man denke etwa an den in einem Leserbrief angestrengten Vergleich
von Franz Vranitzkys KulturverstĂ€ndnis mit âMetternich, Stalin und Hitlerâ
(TBW 22.1, 680). Die Forschung hat darauf hingewiesen, dass sich in Bernhards
âDenken und Schreibenâ, trotz seiner vielfĂ€ltigen BezĂŒge zu realhistorischen
und tagespolitischen Ereignissen, weder einlÀssliche Analysen des Status quo
Dichterâ. Thomas Bernhards poetologische Maskeraden. In: Dichterdarsteller. Fallstudien zur
biographischen Legende des Autors im 20. und 21.Â
Jahrhundert. Hg. v. Robert Leucht u. Magnus
Wieland. Göttingen: Wallstein 2016, S. 157 â 174, hier S. 163.
29 Conny Bischofsberger: Herr Bernhard: Was haben Sie gegen Ăsterreich? In: Kurier, 14. 10. 1988.
30 Christian Klug: Thomas Bernhards TheaterstĂŒcke. Stuttgart: Metzler 1991, S. 11, hat darauf
hingewiesen, dass die Bezeichnung des âMonologischenâ fĂŒr die Sprechakte von Bernhards
TheaterstĂŒcken bis zu einem gewissen Grad irrefĂŒhrend ist, weil die langen Reden einzelner
Figuren ânicht nur in der Gegenwart anderer Figuren statt[finden]â, sondern diese auch âvor-
aus[setzen]â: âDie Reden von Bernhards Theaterfiguren können nur unter der (ĂŒberaus proble-
matischen) Voraussetzung sinnvoll als monologische bezeichnet werden, daĂ ein qualitativer
MaĂstab gelingender Kommunikation vorausgesetzt wird, der in Bernhards Konversationen
unterschritten wĂŒrde.â Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 353
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471