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Rezeption ein enormes Provokations- und Irritationspotential entfaltet hat:
„Ich schreibe prinzipiell nur Dinge, die ich selbst empfinde“, wird Bernhard
im Oktober 1988 in einem seiner letzten öffentlichen Statements äußern und
damit frühere Stellungnahmen konterkarieren: „Da ist alles autobiographisch.
Wer mich kennt, der weiß das auch.“ 29
In Bernhards letztem, 1988 am Burgtheater uraufgeführtem Theaterstück
Heldenplatz findet sich mit Robert Schusters elegisch-aggressivem ‚Monolog‘30
schließlich jene charakteristische Passage, in der – im Gestus bewusster Provo-
kation
– gar eine Ununterscheidbarkeit nazistischer und sozialistischer Ideologie
postuliert wird:
dieser größenwahnsinnige Republikanismus
und dieser größenwahnsinnige Sozialismus
der mit Sozialismus schon seit einem halben Jahrhundert
nichts mehr zu tun hat
was die Sozialisten hier in Österreich aufführen
ist ja nichts als verbrecherisch
aber die Sozialisten sind ja keine Sozialisten mehr
die Sozialisten heute sind im Grunde nichts anderes
als katholische Nationalsozialisten (TBW 20, 285 f.)
Als besonders hellsichtige Kommentierungen eines politischen Systems und
seiner historischen Filiationen können diese Zeilen, ebenso wie manche publi-
zistische Invention, die Bernhard unter eigenem Namen lanciert hat, kaum
gelten – man denke etwa an den in einem Leserbrief angestrengten Vergleich
von Franz Vranitzkys Kulturverständnis mit „Metternich, Stalin und Hitler“
(TBW 22.1, 680). Die Forschung hat darauf hingewiesen, dass sich in Bernhards
„Denken und Schreiben“, trotz seiner vielfältigen Bezüge zu realhistorischen
und tagespolitischen Ereignissen, weder einlässliche Analysen des Status quo
Dichter“. Thomas Bernhards poetologische Maskeraden. In: Dichterdarsteller. Fallstudien zur
biographischen Legende des Autors im 20. und 21.
Jahrhundert. Hg. v. Robert Leucht u. Magnus
Wieland. Göttingen: Wallstein 2016, S. 157 – 174, hier S. 163.
29 Conny Bischofsberger: Herr Bernhard: Was haben Sie gegen Österreich? In: Kurier, 14. 10. 1988.
30 Christian Klug: Thomas Bernhards Theaterstücke. Stuttgart: Metzler 1991, S. 11, hat darauf
hingewiesen, dass die Bezeichnung des ‚Monologischen‘ für die Sprechakte von Bernhards
Theaterstücken bis zu einem gewissen Grad irreführend ist, weil die langen Reden einzelner
Figuren „nicht nur in der Gegenwart anderer Figuren statt[finden]“, sondern diese auch „vor-
aus[setzen]“: „Die Reden von Bernhards Theaterfiguren können nur unter der (überaus proble-
matischen) Voraussetzung sinnvoll als monologische bezeichnet werden, daß ein qualitativer
Maßstab gelingender Kommunikation vorausgesetzt wird, der in Bernhards Konversationen
unterschritten würde.“ Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 353
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471