Page - 360 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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Gerade der Vorwurf, Bernhard schreibe im Grunde Literatur fĂŒr Kritiker und
Germanisten, fĂŒr Feuilletonredaktionen und UniversitĂ€ten, stand in scharfem
Widerspruch zu dessen SelbstverstÀndnis bzw. zu jenem Bild, das er von sich
in der Ăffentlichkeit kolportiert sehen wollte, war Bernhard doch darauf aus,
Leser wie Kritiker mit seinen Texten fortwĂ€hrend âzu provozierenâ (TBW 22.2,
275) und eben nicht deren Erwartungshaltung zu befriedigen. Seiner âVerach-
tungâ des âSeziertum[s] in den OperationssĂ€len der Literaturâ hat er ein ums
andere Mal Ausdruck verliehen.50 Dass Turrini ihn nun ausgerechnet als Zulie-
ferer bekömmlicher Interpretationsobjekte attackierte, wog vor diesem Hinter-
grund besonders schwer.
Ein Jahr darauf wiederholte und verschÀrfte Turrini seine Attacke gegen
Bernhard in einem Interview fĂŒr die KĂ€rntner Kulturzeitschrift BrĂŒcke noch
einmal, wobei er die Kritik an seinem Kontrahenten erneut mit dessen PrÀsenz
in der âLiteraturkritikâ und auf den âKulturseite[n]â verknĂŒpft:
Ich rede ja mit Leuten und möchte eine Antwort haben. Ich schreie ja nicht in Litera-
turbĂŒcher hinein, um irgendwo abgedruckt zu werden. Das ist ja auch der Unterschied
zwischen einem politisch engagierten Literaten, der ich sein möchte, und einem an
der Kunst an sich interessierten Literaten. Und genau dieser Mangel an Antwort auf
der ganzen Ebene am Theater und auch in der Literaturkritik ist auch eine ErklÀrung
dafĂŒr, warum ich zum Fernsehen gegangen bin, von dem sich ja die meisten Kritiker
und Literaturfexen ohnehin höhnisch abwenden und sagen: âDas ist ja so etwas Tri-
viales, da brauchen wir uns kaum ĂŒber eine Viertelspalte damit zu beschĂ€ftigen.â Viel
wichtiger ist es, wenn der Thomas Bernhard wieder einmal einen Wald gefunden hat,
wo die BorkenkĂ€fer herumrennen: das ist viel elementarer fĂŒr die Kulturseite. Gerade
dort gehöre ich aber nicht hin, in diesen Wald, aus dem keine Antwort kommt, nur
BorkenkÀfer. Ich gehöre ganz woanders hin.51
50 Bernhard an Joseph Breitbach, 28. 6. 1966. In: Bernhard/Unseld: Der Briefwechsel (Anm. 2),
S.Â
46, Anm.Â
5. Im konkreten Fall handelt es sich hier um ein von Bernhard besuchtes Seminar
an der UniversitĂ€t MĂŒnchen, das sich unter der Leitung von Werner Vordtriede mit Amras
beschÀftigt hatte und von dem der Autor, wie er in einem Brief an Gerhard Fritsch schreibt, im
Juni 1966 ânichts als schauerliche EindrĂŒckeâ mitgebracht habe (Thomas Bernhard an Gerhard
Fritsch, 26. 6. 1966. In: T. B./G. F.: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger u. Martin Huber.
Mattighofen: Korrektur 2013, S. 57).
51 GĂŒnther Nenning: WerkstĂ€ttengesprĂ€ch mit Peter Turrini. [1975] In: Turrini Lesebuch. StĂŒcke,
Pamphlete, Filme, Reaktionen etc. Ausgew. u. bearb. v. Ulf Birbaumer. Wien u. a.: Europaverlag
1978, S. 343 â 352, hier S. 350 f. â Turrinis Rede vom BorkenkĂ€fer spielt auf Bernhards 1974 am
Wiener Burgtheater uraufgefĂŒhrtes TheaterstĂŒck Die Jagdgesellschaft an: âTatsache istÂ
/ daĂ der
BorkenkĂ€fer / alles hier / alles mit dem Jagdhaus ZusammenhĂ€ngende / zerstört / zerfriĂt /
allesâ (TBW 15, 363).
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard360
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471