Page - 361 - in Strategen im Literaturkampf - Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
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1978 lieĂ Bernhard den einst verlachten Buben und nunmehrigen Rivalen Turrini
im Kurzprosaband Der Stimmenimitator als âgelernte[n] Möbeltischlerâ auftre-
ten, âder durch die Bekanntschaft mit einem ursprĂŒnglich begabten Komponis-
tenâ â die Bemerkung weist auf die Abrechnung mit dem frĂŒheren MĂ€zen und
Freund Gerhard Lampersberg in HolzfĂ€llen (1984) voraus â âauf die Literatur
gekommenâ sei, jedoch âaus Verzweiflung ĂŒber seine Verkennung an seinem
zweiundzwanzigsten Geburtstagâ Selbstmord begangen habe (TBW 14, 274).
Die fiktionale Miniatur Bernhards bringt den Konkurrenten nicht nur um sein
Leben, sondern auch um seinen kĂŒnstlerischen Erfolg.52
Anfang der 1980er Jahre waren Peter Turrini und Gerhard Roth, der eben den
ersten Band seines groĂen Romanzyklus Die Archive des Schweigens (1980 â 1991)
vorgelegt hatte, als Akteure einer (auch politisch) progressiven österreichischen
Literatur etabliert. Dass sie sich fĂŒr die Arbeit an der Festgabe fĂŒr Kreisky zur
VerfĂŒgung gestellt hatten, verweist nicht zuletzt auf das Ansehen, das der sozia-
listische Bundeskanzler bei vielen Autoren und Kunstschaffenden in Ăsterreich
genoss.53 Umso mehr reizte Bernhard die Denunziation der beiden Schriftsteller
als Handlanger der Politik, als heteronome KĂŒnstler, die ex negativo seine eigene
Unkorrumpierbarkeit, die eigene autonome Position im literarischen Feld unter-
streichen sollte.54
52 Der Hinweis darauf in Amann: Turrinis Bei Einbruch der Dunkelheit (Anm. 46), S. 166.
53 Vgl. Petritsch: Bruno Kreisky (Anm. 13), S. 286 â 289, der u. a. Stellungnahmen von Gerhard
Roth und Peter Henisch zitiert.
54 Dazu und zur Problematisierung einer solchen âpolemische[n] Sichtâ auf den Gegensatz Auto-
nomie/Heteronomie vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des
literarischen Feldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 349 â 353, Zit. S. 350 f. â Roth ist auf
Bernhards Angriff in seinem im Februar 1989 in der Neuen Rundschau veröffentlichten Nekro log
zurĂŒckgekommen. Vgl. Gerhard Roth: Der Menschenfeind, der der Alpenkönig war. Nachruf
auf Thomas Bernhard. In: Neue Rundschau (1989), H. 2, S. 187 â 189, hier S. 188: âEr war ein
unerbittlicher Kritiker, was ich auch selbst zu spĂŒren bekam.â Dazu ausfĂŒhrlich Ralf Georg
Bogner: Drei Distanzierungen. Die Nachrufe von H. C. Artmann, Elfriede Jelinek und Gerhard
Roth auf Thomas Bernhard. In: Die Lebenden und die Toten. BeitrÀge zur österreichischen
Gegenwartsliteratur. Hg. v. Markus Knöfler, Peter Plener u. Péter Zalån. Budapest: ELTE 2000,
S.Â
251 â 263.Â
â Im Zuge der Diskussionen um Heldenplatz setzte sich Roth im Oktober 1988, so
Oliver Bentz: Thomas BernhardÂ
â Dichtung als Skandal. WĂŒrzburg: Königshausen & Neumann
2000, S. 92, gemeinsam mit Barbara Frischmuth, Josef Haslinger, Elfriede Jelinek, Michael
Scharang, Peter Turrini (!) und Gernot Wolfgruber u. a. mit einem Aufruf in der Volksstimme
fĂŒr Bernhard ein. Noch 1999 war er freilich der Ăberzeugung, dass Bernhard âKreisky als Poli-
tiker lĂ€cherlich falsch eingeschĂ€tzt hat, wie ich ĂŒberhaupt den Eindruck habe, dass er es sich
mit der Politik in der Ablehnung aus einer Position der Stammtisch-HĂ€me zu leicht machteâ
(Gerhard Roth: Thomas Bernhard. Der lebendige Tote. [1999] In: G. R.: Portraits. Frankfurt
a. M.: S. Fischer 2012, S. 83 â 92, hier S. 85 f.).
Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 361
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471