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1978 ließ Bernhard den einst verlachten Buben und nunmehrigen Rivalen Turrini
im Kurzprosaband Der Stimmenimitator als „gelernte[n] Möbeltischler“ auftre-
ten, „der durch die Bekanntschaft mit einem ursprünglich begabten Komponis-
ten“ – die Bemerkung weist auf die Abrechnung mit dem früheren Mäzen und
Freund Gerhard Lampersberg in Holzfällen (1984) voraus – „auf die Literatur
gekommen“ sei, jedoch „aus Verzweiflung über seine Verkennung an seinem
zweiundzwanzigsten Geburtstag“ Selbstmord begangen habe (TBW 14, 274).
Die fiktionale Miniatur Bernhards bringt den Konkurrenten nicht nur um sein
Leben, sondern auch um seinen künstlerischen Erfolg.52
Anfang der 1980er Jahre waren Peter Turrini und Gerhard Roth, der eben den
ersten Band seines großen Romanzyklus Die Archive des Schweigens (1980 – 1991)
vorgelegt hatte, als Akteure einer (auch politisch) progressiven österreichischen
Literatur etabliert. Dass sie sich für die Arbeit an der Festgabe für Kreisky zur
Verfügung gestellt hatten, verweist nicht zuletzt auf das Ansehen, das der sozia-
listische Bundeskanzler bei vielen Autoren und Kunstschaffenden in Österreich
genoss.53 Umso mehr reizte Bernhard die Denunziation der beiden Schriftsteller
als Handlanger der Politik, als heteronome Künstler, die ex negativo seine eigene
Unkorrumpierbarkeit, die eigene autonome Position im literarischen Feld unter-
streichen sollte.54
52 Der Hinweis darauf in Amann: Turrinis Bei Einbruch der Dunkelheit (Anm. 46), S. 166.
53 Vgl. Petritsch: Bruno Kreisky (Anm. 13), S. 286 – 289, der u. a. Stellungnahmen von Gerhard
Roth und Peter Henisch zitiert.
54 Dazu und zur Problematisierung einer solchen „polemische[n] Sicht“ auf den Gegensatz Auto-
nomie/Heteronomie vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des
literarischen Feldes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 349 – 353, Zit. S. 350 f. – Roth ist auf
Bernhards Angriff in seinem im Februar 1989 in der Neuen Rundschau veröffentlichten Nekro log
zurückgekommen. Vgl. Gerhard Roth: Der Menschenfeind, der der Alpenkönig war. Nachruf
auf Thomas Bernhard. In: Neue Rundschau (1989), H. 2, S. 187 – 189, hier S. 188: „Er war ein
unerbittlicher Kritiker, was ich auch selbst zu spüren bekam.“ Dazu ausführlich Ralf Georg
Bogner: Drei Distanzierungen. Die Nachrufe von H. C. Artmann, Elfriede Jelinek und Gerhard
Roth auf Thomas Bernhard. In: Die Lebenden und die Toten. Beiträge zur österreichischen
Gegenwartsliteratur. Hg. v. Markus Knöfler, Peter Plener u. Péter Zalán. Budapest: ELTE 2000,
S.
251 – 263.
– Im Zuge der Diskussionen um Heldenplatz setzte sich Roth im Oktober 1988, so
Oliver Bentz: Thomas Bernhard
– Dichtung als Skandal. Würzburg: Königshausen & Neumann
2000, S. 92, gemeinsam mit Barbara Frischmuth, Josef Haslinger, Elfriede Jelinek, Michael
Scharang, Peter Turrini (!) und Gernot Wolfgruber u. a. mit einem Aufruf in der Volksstimme
für Bernhard ein. Noch 1999 war er freilich der Überzeugung, dass Bernhard „Kreisky als Poli-
tiker lächerlich falsch eingeschätzt hat, wie ich überhaupt den Eindruck habe, dass er es sich
mit der Politik in der Ablehnung aus einer Position der Stammtisch-Häme zu leicht machte“
(Gerhard Roth: Thomas Bernhard. Der lebendige Tote. [1999] In: G. R.: Portraits. Frankfurt
a. M.: S. Fischer 2012, S. 83 – 92, hier S. 85 f.).
Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 361
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Titel
- Strategen im Literaturkampf
- Untertitel
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Autor
- Harald Gschwandtner
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Abmessungen
- 15.7 x 23.9 cm
- Seiten
- 482
- Schlagwörter
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- VORWORT 9
- I „SCHREIBEN IST EIN FÜNFKAMPF“: EINE ART EINLEITUNG 13
- II „ICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDEN“:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- Einsprüche gegen die Kritik: eine verbotene Übung (Verstörung) 34
- „Über diesen Roman wären nicht so viele böse Worte zu verlieren …“: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, Verbündete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch „rehabilitieren“? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWÄNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche Schwätzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- „vollkommen humorlos und blöd“: Bernhard und die Literaturkritik 82
- „vom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten Verriß“: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- „unbeholfener lyrischer Unsinn“: Bernhard redigiert eine Kritik – mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- „ekelhaft ekelhaft ekelhaft“: Kritiken auf der Bühne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Über allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der Dürre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als ‚leeres Geschäft‘: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- „Ihr wart Vollblutschauspieler“:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- „Solche Wörter sollte man euch verbieten“ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV „MEIN FEIND IN DEUTSCHLAND“: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der ‚Natürlichkeit‘ 150
- Die „ästhetischen Gewissensbisse“ des Peter Handke (Wunschloses Unglück) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshändige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- „schiefe Bilder und preziöse Vergleiche“ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit Cézanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- Schnüffeln und Verreißen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V „ES SIND AUCH ANDERE SÄTZE MÖGLICH“: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENÖSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- „Aber ich bin kein Kritiker“ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der Lektüre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- „Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist“: Helmut Färber 246
- „Haben Sie das gehört?“: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- „wirklich unorthodox“: Handke über/mit Ödön von Horváth 259
- Keine Axt für das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI „ZEITUNGSG’SCHICHT’LN“: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- „Ich glaube, da liegen die Wurzeln“: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- „Kanzlist, Kofferträger und Kunstkritiker“ 289
- „zuchtvoll und klar“: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der „NS-Parnaß“ 305
- „Traumfabrik“ und „Ro-Ro-Ro-Kost“: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- „Was in den guten Jungen nur gefahren sein mag?“: erste Polemiken 329
- „Ich kann kein Buch besprechen“: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- „ein wirklicher Dichter“: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen „Geisteskunst“ und „Selbstkorrektur“: Szenen prekärer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom „Streben nach eigener Billigung“ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471