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ist er als die entscheidende Herausforderung einer âSelberlebensbeschreibungâ
bestĂ€ndig prĂ€sent. âAlles Mitgeteilte kann nur FĂ€lschung und VerfĂ€lschung sein,
also sind immer nur FĂ€lschungen und VerfĂ€lschungen mitgeteilt worden. [âŠ]
Wir beschreiben einen Gegenstand und glauben, wir haben ihn wahrheitsgemĂ€Ă
und wahrheitsgetreu beschrieben, und mĂŒssen feststellen, es ist nicht die Wahr-
heitâ (TBW 10, 135), heiĂt es dementsprechend in Der Keller (1976).99 FĂŒnf Jahre
spÀter hat Bernhard im vierten Band der Autobiographie, Die KÀlte (1981), sein
Misstrauen gegenĂŒber der Vermittlungsleistung von Sprache in Bezug auf eine
biographische âWahrheitâ noch einmal unterstrichen:
Die Sprache ist unbrauchbar, wenn es darum geht, die Wahrheit zu sagen, Mitteilung
zu machen, sie lĂ€Ăt dem Schreibenden nur die AnnĂ€herung, immer nur die verzwei-
felte und dadurch auch nur zweifelhafte AnnÀherung an den Gegenstand, die Sprache
gibt nur ein gefÀlschtes Authentisches wider, das erschreckend Verzerrte, sosehr sich
der Schreibende auch bemĂŒht, die Wörter drĂŒcken alles zu Boden und verrĂŒcken alles
und machen die totale Wahrheit auf dem Papier zur LĂŒge. (TBW 10, 364)
Rainald Goetz hat, in einer der hellsichtigsten Besprechungen von Die KĂ€lte, von
den âselbstinquisitorischen Zweifelnâ in Bernhards autobiographischen BĂ€nden
gesprochen.100 In dem 1981 bei den Salzburger Festspielen uraufgefĂŒhrten Theater-
stĂŒck Am Ziel bringt die dominante Mutter, die gemeinsam mit ihrer Tochter die
Ankunft eines jungen Dramatikers erwartet, das Problem der UnverfĂŒgbarkeit
auf die folgende Formel: âWenn wir einen Menschen schildern / und wir den-
ken wir schildern ihn so wie er ist / so haben wir ihn ganz falsch geschildert /
er ist nicht so wie wir ihn schildernâ (TBW 18, 317). Gerade am Beispiel seiner
selbstbiographischen Texte hat sich die Bernhard-Philologie â und insbeson-
dere die an der Lebensgeschichte des Autors orientierte Forschung â mit dem
âschwierige[n] VerhĂ€ltnis von RealitĂ€t und literarischer Wiedergabeâ in dessen
99 Vgl. dazu etwa Reinhard Tschapke: Hölle und zurĂŒck. Das Initiationsthema in den Jugend-
erinnerungen Thomas Bernhards. Hildesheim u. a.: Olms 1984, S. 148 f. Billenkamp: Thomas
Bernhard (Anm. 26), S. 301, hat in diesem Zusammenhang auf eine VerÀnderung im Laufe
von Bernhards autobiographischem Projekt hingewiesen: âGeht es ihm in den ersten BĂ€nden
noch explizit um die wirklichkeitsgetreue Darstellung, um die Schilderung von Wahrheit und
AuthentizitÀt sowie eine intensive Ursachenforschung, so distanziert sich Bernhard in den
nachfolgenden BĂ€nden von diesem Vorhaben und behauptet, dass Wahrheit in der Literatur
oder in der Kunst ohne FĂ€lschung und VerfĂ€lschung nicht darstellbar sei.â Vgl. dazu ebd.,
S. 297 â 302, sowie die Ăberlegungen von Till Greite: âProzesse, nichts als Prozesseâ. Thomas
Bernhard. Vom Gerichtsberichterstatter zum Fall fĂŒr die Justiz. In: Recht, sachlich. Hg. v. David
Oels, Stephan Porombka u. Eberhard SchĂŒtz. Hannover: Wehrhahn 2009, S.Â
95 â 102, hier S.Â
99,
wonach âauthentisches Sprechen bei Bernhard immer schon auf schwankendem Grund stehtâ.
100 Rainald Goetz: âWahr ist nur, was nicht paĂtâ. Ăber Thomas Bernhards Die KĂ€lte. In: Der
Spiegel, Nr. 18, 27. 4. 1981, S. 229 â 232, hier S. 229.
Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 375
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471