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Dieser Ăbergang von tiefer Betroffenheit zu abgeklĂ€rter und souverĂ€ner Duldung
stellte fĂŒr Bernhard â aber auch fĂŒr Handke â eine zentrale Herausforderung
dar. Handkes Mitte der 1970er Jahre in Das Gewicht der Welt notierte Sentenz
âWas andere ĂŒber mich sagen, dulde ich, ohne daĂ es mich betrifftâ ist fĂŒr beide
Autoren eher als vergeblich repetiertes Mantra zu verstehen denn als Beschrei-
bung einer tatsÀchlich konsequenten Abwendung.158
Die Bemerkung des ErzÀhlers von Der Untergeher (1983), der kurz zuvor
durch Suizid aus dem Leben geschiedene Pianist Wertheimer habe âunter einem
ununterbrochenen kĂŒnstlerischen BestĂ€tigungszwangâ gelitten (TBW 6, 96),
kann wohl auch als selbstreflexiver Kommentar seines Autors Thomas Bernhard
gelesen werden: âWertheimer war immer wichtig zu wissen, was die Leute ĂŒber
ihn denkenâ, heiĂt es von dem gescheiterten KĂŒnstler, wĂ€hrend der sehr viel
erfolgreichere, international gefeierte Pianist Glenn Gould darauf ânicht den
geringsten Wertâ gelegt habe (TBW 6, 79).159 Der auf die positive Resonanz der
âsogenannten Umweltâ bedachte (TBW 6, 79), ja von ihr abhĂ€ngige Wertheimer
fungiert in Der Untergeher als abschreckendes Beispiel des scheiternden KĂŒnst-
lers, dem der selbstbestimmte, nur seinen eigenen MaĂstĂ€ben gehorchende
Klaviervirtuose Glenn Gould als Wunschbild gegenĂŒbersteht: âGlenn war starkâ,
heiĂt es in Ăbereinstimmung mit Harold Blooms Theorie schriftstellerischer
KreativitĂ€t, âWertheimer war unser SchwĂ€chsterâ (TBW 6, 29).160 Bloom hat in
seiner begriffsprÀgenden Studie zur Einflussangst bekanntlich die grundlegende
Unterscheidung von âstarkenâ und âschwachenâ KĂŒnstlern etabliert, wobei nur der
starke KĂŒnstler in der Lage sei, der Ăbermacht der Ăberlieferung im âKampf
des KĂŒnstlers gegen die Kunstâ eine eigenstĂ€ndige, individuelle Position ent-
gegenzusetzen.161 Wenn Bloom in seiner 1973 unter dem Titel The Anxiety of
158 Handke: Das Gewicht der Welt (Anm. 59), S. 186.
159 Ein von Sepp Dreissinger zusammengestellter Band mit Erinnerungen von Freunden, Weg-
gefÀhrten, Kollegen u. v. a. trÀgt den bezeichnenden Titel Was reden die Leute. 58 Begegnungen
mit Thomas Bernhard (Anm. 8).
160 Siehe auch die Bemerkung des ErzĂ€hlers an einer spĂ€teren Stelle des Textes: âDie schwachen
Charaktere werden immer auch nur schwache KĂŒnstler, sagte ich mir, Wertheimer bestĂ€tigt
das unmiĂverstĂ€ndlich, dachte ich.â (TBW 6, 78) Zu Korrespondenzen zwischen Bernhard
und Bloom vgl. Ingeborg Hoesterey: Visual Art as Narrative Structure. Thomas Bernhardâs Alte
Meister. In: Modern Austrian Literature 21 (1988), H. 3/4, S. 117 â 122, bes. S. 118 u. 120; Hahn:
Geschichte und Epigonen (Anm.Â
37), S.Â
383 f. u.Â
453 ff.; Jörg Robert: Wir sind ja diese Verwandt-
schaft ⊠Unheimliche Tradition und âHerkunftskomplexâ in Thomas Bernhards Roman Alte
Meister. In: Euphorion 105 (2011), H.Â
4, S.Â
443 â 464, bes. S.Â
451 â 453, 457 u.Â
463; Gschwandtner:
Thomas Bernhards âRadikalitĂ€tâ (Anm. 138), S. 237 f.
161 Harold Bloom: EinfluĂangst. Eine Theorie der Dichtung. Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld
1995, S. 12. Vgl. dazu mit Blick auf Bernhards Werk Hans Höller: âGewalt auch ĂŒber ganz
GroĂeâ. Thomas Bernhards Ăberwindung der âEinflussangstâ. In: Thomas Bernhard Jahrbuch
2005/2006, S. 65 â 74.
Rezensionen, die keine sind: Kritik und Selbstkritik bei Thomas
Bernhard390
© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1, 1080 Wien
https://doi.org/10.7788/9783205212317 | CC BY-NC-ND 4.0
Strategen im Literaturkampf
Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Title
- Strategen im Literaturkampf
- Subtitle
- Thomas Bernhard, Peter Handke und die Kritik
- Author
- Harald Gschwandtner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21231-7
- Size
- 15.7 x 23.9 cm
- Pages
- 482
- Keywords
- Kulturjournalisten, Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, Peter Handke, Thomas Bernhard
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- VORWORT 9
- I âSCHREIBEN IST EIN FĂNFKAMPFâ: EINE ART EINLEITUNG 13
- II âICH KANN MICH DAMIT SCHWER ABFINDENâ:KRITIK DER KRITIK ALS WERKPOLITIK 27
- Legitimationen und Strategien 27
- EinsprĂŒche gegen die Kritik: eine verbotene Ăbung (Verstörung) 34
- âĂber diesen Roman wĂ€ren nicht so viele böse Worte zu verlieren âŠâ: Handkes Hornissen nach Princeton 39
- Fronten, VerbĂŒndete, Kampfbegriffe 49
- Ein Buch ârehabilitierenâ? (Die Hornissen, Der Hausierer) 55
- III UNFREUNDLICHE BETRACHTUNGEN: EINWĂNDE GEGEN DIE LITERATURKRITIK 63
- Sehlustfeindliche SchwÀtzer 63
- Vom Zeitungswahnsinn bedroht (Wittgensteins Neffe, Nachmittag eines Schriftstellers) 70
- âvollkommen humorlos und blödâ: Bernhard und die Literaturkritik 82
- âvom peinlichsten Lob bis zum bösartigsten VerriĂâ: Bernhard liest Rezensionen (Frost) 87
- âunbeholfener lyrischer Unsinnâ: Bernhard redigiert eine Kritik â mit einem Exkurs zu Elias Canetti 95
- âekelhaft ekelhaft ekelhaftâ: Kritiken auf der BĂŒhne (Der Ignorant und der Wahnsinnige, Minetti, Ăber allen Gipfeln ist Ruh) 103
- Von der DĂŒrre der Theaterkritik oder: Landwirte und Rezensenten 112
- Nur selten ein Sommerhemd: Handke liest Rezensionen 117
- Literaturkritik als âleeres GeschĂ€ftâ: Handkes Vorarbeiten im Radio 120
- âIhr wart Vollblutschauspielerâ:Handke und die Phrasen der Kritik (Publikumsbeschimpfung) 126
- âSolche Wörter sollte man euch verbietenâ oder:Erstsprache vs. Zweitsprache 129
- Einwenden und Hochhalten: Handkes Rede gegen die Literaturkritik 133
- IV âMEIN FEIND IN DEUTSCHLANDâ: PETER HANDKE VS. MARCEL REICH-RANICKI 141
- Princeton 1966 und die Folgen 141
- Poetik und Polemik oder: Das Problem der âNatĂŒrlichkeitâ 150
- Die âĂ€sthetischen Gewissensbisseâ des Peter Handke (Wunschloses UnglĂŒck) 156
- Schleichende Eskalation: die 1970er Jahre (Die linkshÀndige Frau, Das Gewicht der Welt) 159
- âschiefe Bilder und preziöse Vergleicheâ (Langsame Heimkehr) 170
- Die Bestie von Puyloubier (Die Lehre der Sainte-Victoire) 175
- Mit CĂ©zanne gegen die Hunde (Die Lehre der Sainte-Victoire) 183
- Im Bunde? Reich-Ranicki, Bernhard und Unseld 189
- SchnĂŒffeln und VerreiĂen (Mein Jahr in der Niemandsbucht) 204
- Unversöhnt: letzte Gefechte (In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus) 212
- V âES SIND AUCH ANDERE SĂTZE MĂGLICHâ: PETER HANDKES GEGENMODELLE ZUR ZEITGENĂSSISCHEN LITERATURKRITIK 221
- âAber ich bin kein Kritikerâ 221
- Ein Leseerlebnis beschreiben: Handke rezensiert Hermann Lenz 228
- Abenteuergeschichte der LektĂŒre: Handke liest Bernhards Verstörung 239
- âKritik, die zugleich eine Form der Begeisterung istâ: Helmut FĂ€rber 246
- âHaben Sie das gehört?â: Wolfgang Bauer, The Beatles, Gert Jonke 251
- âwirklich unorthodoxâ: Handke ĂŒber/mit Ădön von HorvĂĄth 259
- Keine Axt fĂŒr das gefrorene Meer in uns: Franz Kafka, Karin Struck 262
- Der Autor als Kritiker: ein Rollenkonflikt? 266
- VI âZEITUNGSGâSCHICHTâLNâ: THOMAS BERNHARD ALS LITERATURKRITIKER 273
- Vor eines Dichters Grab: Johannes Freumbichler 273
- âIch glaube, da liegen die Wurzelnâ: Bernhard als Gerichtsreporter 284
- âKanzlist, KoffertrĂ€ger und Kunstkritikerâ 289
- âzuchtvoll und klarâ: Bernhard als Literaturkritiker im Salzburger Demokratischen Volksblatt 293
- Verschweigen und Verzeihen: Bernhard und der âNS-ParnaĂâ 305
- âTraumfabrikâ und âRo-Ro-Ro-Kostâ: Kino und Taschenbuch 314
- Alte Zöpfe, neue Pferde 322
- âWas in den guten Jungen nur gefahren sein mag?â: erste Polemiken 329
- âIch kann kein Buch besprechenâ: Absagen und Stellvertretungen (Alte Meister, Auslöschung) 333
- VII REZENSIONEN, DIE KEINE SIND: KRITIK UND SELBSTKRITIK BEI THOMAS BERNHARD 343
- Vorgeschichten einer Polemik: Bernhard vs. Bruno Kreisky 343
- Politische Polemik als Literaturkritik (Gerhard Roth, Peter Turrini) 357
- âein wirklicher Dichterâ: Kreisky verteidigt Handke 362
- The Return of the Critic oder: Ausweitung der Kampfzone 369
- Bernhard als Kritiker seiner selbst (Korrektur) 372
- Zwischen âGeisteskunstâ und âSelbstkorrekturâ: Szenen prekĂ€rer Autorschaft (Korrektur, Am Ortler) 379
- Vom âStreben nach eigener Billigungâ (Der Untergeher, Der Theatermacher) 386
- VIII KRAFT DURCH FEINDE: EINE ART EPILOG 397
- IX DANKSAGUNG 413
- X BIBLIOGRAPHIE 415
- XI PERSONENREGISTER 471