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35Thematische,
räumliche und zeitliche Einordnung
nicht (nur) als Träger »nationaler« »Identitäten«, sondern vielmehr in ihrem
sozio-ökonomischen Umfeld erfasst werden.60
In meiner Arbeit kommen ebenso mehrere Akteure vor, die den nationa-
listischen Erwartungen nicht entsprachen. Schon damals wurde die »natio-
nale Indifferenz« als nationalistischer Vorwurf gegen sie erhoben, als ob sie
sich ihrer »eigentlichen« Identität noch nicht bewusst gewesen wären. Diese
Vorwürfe beweisen die Richtigkeit des Zahraschen Konzeptes, Räume und
»Identitäten«, welche jenseits der nationalistischen Erwartungen und Ima-
ginationen existierten, mehr in den Vordergrund historischer Forschungen
zu rücken.
Es ist aber fraglich, ob die Menschen, die sich den nationalistischen Erwar-
tungen und Vorstellungen nicht fügten, wirklich analytisch als »national
indifferent« zu beschreiben seien, oder ob diese Begrifflichkeit nicht selbst
zu einer dichotomischen Perspektive führt.61 Die Ablehnung der nationa-
listischen Erwartungen bedeutete nicht zwangsweise, dass diese Menschen
kein nationales Bewusstsein gehabt hätten. Der Nationalismus war zwar ein
Elitendiskurs, der oft auf Ablehnung oder Missverständnisse auf der lokalen
Ebene stieß. Dennoch konnten sich die dortigen Akteure ethnisch-national
verorten. Michael Billig verstand das Vorhandensein nationaler Themen im
Alltag vieler Menschen als »banal nationalism«, was die alltägliche Reprodu-
zierung nationalistischer Symbole, Sprache, Praktiken (usw.) auf der loka-
len Ebene bedeutet.62 Billigs betrachtet diesen »banalen Nationalismus« als
Grund der politischen Gemeinschaft einer Nation. Auch in der Habsbur-
germonarchie waren Formen eines solchen Nationalismus – sowohl für das
Imperium als auch für die einzelnen Nationalitätenöffentlichkeiten – vor-
handen, welche sich überlappen und ergänzen konnten.
Für die Frage, ob die Menschen national indifferent waren oder den nati-
onalistischen Vorstellungen folgten, eignet sich allerdings das Konzept der
»everyday ethnicity«, das heißt eines alltäglichen Ausdruckes ethnisch-
sprachlicher wie auch national indifferenter Selbstverortungen,63 besser als
Beschreibung. Mit diesem Konzept denkt Gábor Egry die von John Fox und
60 Maarten Van Ginderachter / Jon Fox, Introduction. National Indifference and
the History of Nationalism in Modern Europe, in: Dies. (Hg.), National Indifference
and the History of Nationalism, S. 1–14, hier S. 2.
61 Zur Zusammenfassung der in der Forschungsliteratur zum Ausdruck gekomme-
nen Kritik des Zahraschen Konzeptes siehe Ágoston Berecz, Recepciótörténeti
széljegyzet Tara Zahra tanulmányához [Rezeptionsgeschichtliche Randnotiz zur
Studie von Tara Zahra], in: Regio 25 (2017), S. 43–50.
62 Michael Billig, Banal Nationalism, Los Angeles u. a. 1995.
63 Gábor Egry, Beyond Politics. National Indifference as Everyday Ethnicity, in: Van
Ginderachter / Fox (Hg.), National Indifference and the History of Nationalism,
S. 145–160, hier S. 146ff.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303