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46 Einführung
Vergangenheit ebenso ermöglicht werden. Die Fokussierung auf die »Nati-
onalitätenkonflikte« stellt in diesem Sinne »eine unzulässige Verengung der
Perspektive« dar.92 Diese Arbeit strebt demnach eine Perspektive an, mit
welcher die nationsfixierten Erklärungen durch andere Elemente, Momente
und Motive ergänzt und dadurch die Meistererzählung von einem alles
dominierten »Nationalitätenkonflikt« infrage gestellt werden können. Ich
versuche dementsprechend, die lokalen Konflikte, die sich innerhalb religiös
konnotierter Räume, Bereiche und Kontexte bewegten, von den lokalen Situ-
ationen her zu verstehen.
Eine solche Herangehensweise lässt sich als mikrogeschichtlich bezeichnen.
Mikrogeschichte bedeutet eine intensive historiographische Beschäftigung
mit einem klar abgegrenzten, kleinen Objekt / Ereignis / Dorf (o.ä.). Statt mit
Teleskop wird dabei mit einem Mikroskop gearbeitet.93 Diese Methode ent-
stand vor allem in der italienischen Historiographie (microstoria): Italien ist
ein polyzentrisches Land, auch seine Geschichten gestalten (und gestalteten)
sich polyzentrisch, und insofern lässt sich die Realität der lokalen Ebene
nicht von der Perspektive eines Zentrums oder eines allgemeinen Narrati-
ves erfassen.94 Auch der (post)habsburgische Raum kann nicht nur von den
damaligen oder den später entstandenen Zentren und ihren Narrativen her
erklärt werden.
Mikrogeschichte ist aber nicht nur eine Fallstudie oder eine Ansammlung
von Fallstudien. Mikrogeschichte besteht
– wie Otto Ulbricht schreibt
– »aus
wenigen Grundsätzen, einem guten Maß an theoretischer Reflexion und
großer Vielfalt in der Praxis«.95 Die lokale Realität darf nicht kontextlos als
rein anekdotischer Fall dargestellt werden. Mikrogeschichte bedeutet inso-
fern auch die theoretische Reflexion und historische Kontextualisierung
lokal erfasster Ereignisse. Auch wenn mikrogeschichtlich gearbeitet wird,
soll sich also das Ergebnis in einen größeren Kontext einbetten können oder
im besten Falle soll das Ergebnis den bestehenden Kontext neu beleuchten
und somit neue Erkenntnisse für andere Fälle bringen.96
92 Steffi Marung u. a., Territorialisierung in Ostmitteleuropa bis zum Ersten Welt-
krieg, in: Frank Hadler u. a. (Hg.), Handbuch einer transnationalen Geschichte
Ostmitteleuropas, Göttingen 2017, Bd.
I: Von der Mitte des 19.
Jahrhunderts bis zum
Ersten Weltkrieg, S. 37–130, hier S. 62.
93 Sigurður Gylfi Magnússon / István M. Szijártó, What is Microhistory? Theory and
Practice, Abingdon / New York 2013, S. 4f.
94 Carlo Ginzburg / Carlo Poni, Il nome e il come. Scambio ineguale e mercato
storiografica [Der Name und das Wie. Ungleicher Austausch und historiographi-
scher Markt], in: Quaderni storici 14 (1979), S. 181–190, hier S. 189.
95 Otto Ulbricht, Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit,
Frankfurt a. M. / New York 2009, S. 13.
96 Ebd., S. 15.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303