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50 Einführung
zu leugnen, aber sehr schwer zu definieren ist.111 Ist Gewalt die Konsequenz
konfliktgenerierender Diskurse? Oder handelt es sich um Emanzipationsver-
suche marginalisierter Schichten? Oder um irrationale, eigensinnige Wut-
ausbrüche (im Sinne von Alf Lüdtke)? Während Jörg Baberowski die indi-
viduelle und rational schwer nachvollziehbare Innenseite der Gewaltakte in
den Vordergrund rückt,112 versuchen die Theorien der strukturellen Gewalt,
die Gewalt aus vorhandenen Strukturen zu erklären und sie somit einer ratio-
nalen Kritik zu unterziehen.113 Aber weder die Irrationalität der Gewalt noch
die Strukturen liefern eine befriedigende Antwort auf das Wesen der
Gewalt.
In der folgenden Arbeit werde ich unter Gewalt (bzw. Androhung von
Gewalt) physische, körperliche Handlungen und verbale Beleidigungen, also
keine Strukturen oder Symbole, sondern konkrete Taten verstehen. Wie Jörg
Baberowski lapidar feststellt: »Gewalt schmerzt.«114 Das Gewaltphänomen
lässt sich leichter erkennen, wenn ihm ideologische, wertende Bedeutungen
nicht anhaften.115 Somit lässt sich die Gewalt als konkreter, schmerzverursa-
chender Akt von konkreten Tätern begreifen.
Die Akte lassen sich zwar in größere Kontexte einbetten oder mit ver-
steckten Strukturen erklären. Aber die Handlungen sind mit diesen Kon-
texten und Strukturen nicht gleichzusetzen. Die »Nationalitätenfrage« als
politische Kommunikation stellte in der Habsburgermonarchie für die »hohe
Politik« und die städtische Publizistik ein gern bedientes Vokabular dar, um
komplexe Sachverhalte zu simplifizieren bzw. in den parteipolitischen Dis-
kussionen Emotionen zu mobilisieren, was allerdings nicht bedeutet, dass
die lokale Ebene, also das Alltagsleben, von diesem »gewaltigen« Vokabular
wirklich geprägt war. Gewalt entsprach immer einzelnen, konkreten Taten.
Eine Auffassung der Gewalt als strukturelle Gewalt im Sinne von perma-
nenter Unterdrückung wäre irreführend und übertrieben. Die Meistererzäh-
lungen der »Nationalitätenkonflikte« suggerieren eine solche strukturelle
Gewalt auf der lokalen Ebene.
111 Einige meinen sogar, dass die Unklarheit zum Wesen der Gewalt gehöre; vgl. Wil-
helm Heitmayer / Hans-Georg Soeffner, Einleitung. Gewalt. Entwicklungen,
Strukturen, Analyseprobleme, in: Dies. (Hg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen,
Analyseprobleme, Frankfurt a. M. 2004, S. 11–17, hier S. 11.
112 Jörg Baberowski, Gewalt verstehen, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in
Contemporary History 5 (2008), S. 5–17, hier S. 12ff.
113 Das Konzept wurde von Johan Galtung eingeführt, siehe Johann Galtung, Struk-
turelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek bei Ham-
burg 1979.
114 Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, Bonn 2016, S. 110.
115 Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialge-
schichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 37
(1997), S. 366–386, hier S. 374.
Umkämpfte Kirche
Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Titel
- Umkämpfte Kirche
- Untertitel
- Innerkatholische Konflikte im österreichischungarischen Küstenland 1890–1914
- Autor
- Péter Techet
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-666-35696-4
- Abmessungen
- 15.9 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Kirche, Religion, Österreich, Kaiserzeit
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918
Inhaltsverzeichnis
- Bemerkung zu den Personen- und Ortsnamen 11
- Danksagung 13
- Vorwort 15
- 1. Einführung: Konzept, Verortung, Methode 19
- 2. Imperium, Nation und Katholizismus in der Habsburgermonarchie 59
- 3. Österreichisches Küstenland 85
- 3.1 Konflikte um die Nationalisierung des kirchlichen Raumes in Istrien 88
- 3.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Triest 126
- 3.2.1 Ricmanje: Slowenischsprachiges Dorf an der sprachkulturellen Grenze zu Triest 126
- 3.2.2 Konfliktgeschichte: Vom Kampf um die Pfarrei bis zum Kampf gegen die Kirche 130
- 3.2.3 Konfliktanalyse: Situative Identifizierungen auf mehreren Konfliktebenen 161
- 3.2.4 Historischer Kontext: Lokaler Widerstand gegen kirchliche Vereinheitlichung 165
- 3.3 Fazit: Konkurrierende und proaktive Selbstbehauptung ländlicher Katholiken 168
- 4. Ungarisch-Kroatisches Küstenland 171
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 4.1.1 Einführung der altslawischen Liturgiesprache in der ehemaligen Militärgrenze 174
- 4.1.2 Konfliktgeschichte: Lokaler Widerstand gegen die altslawische Liturgiesprache 182
- 4.1.3 Konfliktanalyse: Nationale Indifferenz oder antiserbischer Hass? 195
- 4.1.4 Historischer Kontext: Altslawische Sprache als nationales Thema 203
- 4.2 Kirchenstreit im ländlichen Hinterland der Hafenstadt Fiume / Rijeka 207
- 4.3 Fazit: Reaktiver Selbstschutz ländlicher Katholiken 236
- 4.1 Konflikte um und gegen die altslawische Liturgiesprache im Bistum Senj 174
- 5. Konfliktdynamiken: Nationale Nonkonformität und religiöse Peripherie 241
- Ausblick 257
- Quellen- und Literaturverzeichnis 263
- Archivmaterial 263
- Bibliotheken 265
- Zeitungen 265
- Digitale Sammlungen 267
- Zeitgenössische Literatur 267
- Sekundärliteratur 268
- Ortsnamen in den landesüblichen Sprachen 289
- Personen 295
- Verzeichnis von Abbildungen, Karten und Tabellen 297
- Abkürzungen 299
- Register 301
- 1. Ortsregister 301
- 2. Personenregister 303